Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
Vom Netzwerk:
naß und malte dem Frauenzimmer zwei große runde Brüste aufs
    Mieder, die er so lange mit immer wieder benetztem Bleistift nachfuhr, bis
    das Papier mürb war und zu reißen drohte. Er wendete das Blatt um und
    sah mit Befriedigung, daß der Abdruck seiner Zeichnung durch viele Seiten
    sichtbar war. Das nächste Bild, auf das er stieß, gehörte zu einem Märchen
    und stellte einen Kobold oder Wüterich mit bösen Augen, gefährlich kriege-
    rischem Schnauzbart und aufgesperrtem Riesenmaul vor. Begierig netzte der
    197
    Alte seinen Bleistift an der Lippe und schrieb mit großen deutlichen Buchstaben neben den Unhold die Worte:
    Das ist der Stricker Sauberle, Hausvater.
    Er beschloß, womöglich das ganze Buch so zu vermalen und verschweinigeln.
    Aber die folgende Abbildung fesselte ihn so stark, und er vergaß sich darüber.
    Sie zeigte die Explosion einer Fabrik und bestand fast nur aus einem mächtigen Dampf- und Feuerkegel, um welchen und über welchem halbe und ganze Men-schenleiber, Mauerstücke, Ziegel, Stühle, Balken und Latten durch die Lüfte
    sausten. Das zog ihn an und zwang ihn, sich die ganze Geschichte dazu aus-
    zudenken und sich namentlich vorzustellen, wie es den Emporgeschleuderten
    im Augenblick des Ausbruches zumut gewesen sein möchte. Darin lag ein Reiz
    und eine Befriedigung, die ihn lange in Atem hielten.
    Als er seine Einbildungskraft an diesem aufregenden Bilde erschöpft hatte,
    fuhr er fort zu blättern und stieß bald auf ein Bildlein, das ihn wieder festhielt, aber auf eine ganz andere Art. Es war ein lichter, freundlicher Holzschnitt: eine schöne Laube, an deren äußerstem Zweige ein Schenkenstern aushing,
    und über dem Stern saß mit geschwelltem Hals und offenem Schnäblein und
    sang ein kleiner Vogel. In der Laube aber erblickte man um einen Gartentisch eine kleine Gesellschaft junger Männer, Studenten oder Wanderburschen, die
    plauderten und tranken aus heiteren Glasflaschen einen guten Wein. Seitwärts sah man am Rande des Bildchens eine zerfallene Feste mit Tor und Türmen
    in den Himmel stehen, und in den Hintergrund hinein verlor sich eine schöne
    Landschaft, etwa das Rheintal, mit Strom und Schiffen und fernhin entschwin-
    denden Höhenzügen. Die Zecher waren lauter junge, hübsche Leute, glatt oder
    mit jugendlichen Bärten, liebenswürdige und heitere Burschen, welche offen-
    bar mit ihrem Wein die Freundschaft und die Liebe, den alten Rhein und
    Gottes blauen Sommerhimmel priesen.
    Zunächst erinnerte dieser Holzschnitt den einsamen und mürrischen Be-
    trachter an seine besseren Zeiten, da er sich noch Wein hatte leisten können, und an die zahlreichen Gläser und Becher guten Getränkes, die er damals
    genossen hatte. Dann aber wollte es ihm vorkommen, so vergnügt und herz-
    lich heiter wie diese jungen Zecher sei er doch niemals gewesen, selbst nicht vorzeiten in den leichtblütigen Wanderjahren, da er noch als junger Schlossergeselle unterwegs gewesen war. Diese sommerliche Fröhlichkeit in der Laube,
    diese hellen, guten und freudigen Jünglingsgesichter machten ihn traurig und zornig; er zweifelte, ob alles nur die Erfindung eines Malers sei, verschönert und verlogen, oder ob es auch in Wirklichkeit etwa irgendwo solche Lauben
    und so hübsche, frohe und sorgenlose junge Leute gebe. Ihr heiterer Anblick
    erfüllte ihn mit Neid und Sehnsucht, und je länger er sie anschaute, desto
    mehr hatte er die Empfindung, er blicke durch ein schmales Fensterlein für
    Augenblicke in eine andere Welt, in ein schöneres Land und zu freieren und
    gütigeren Menschen hinüber, als ihm jemals im Leben begegnet waren. Er
    198
    wußte nicht, in was für ein fremdes Reich er hineinschaue und daß er diesel-
    be Art von Gefühlen habe wie Leute, die in Dichtungen lesen. Diese Gefühle
    als etwas Süßes auszukosten, verstand er vollends nicht, also klappte er das Büchlein zu, schmiß es zornig auf den Tisch, brummte unwillig gut Nacht
    und begab sich in seine Stube hinüber, wo über Bett und Diele und Truhe
    das Mondzwielicht hingebreitet lag und in dem gefüllten Waschbecken leise
    leuchtete. Die große Stille zu der noch frühen Stunde, das ruhige Mondlicht
    und das leere, für eine bloße Schlafstelle fast zu große Zimmer riefen in dem alten Rauhbein ein Gefühl von unerträglicher Vereinsamung hervor, dem er
    leise murmelnd und fluchend erst spät in das Land des Schlummers entrann.
    Es kamen nun Tage, an denen er Holz sägte und Most und Brot bekam,
    wechselnd mit Tagen,

Weitere Kostenlose Bücher