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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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»Ja« herum.
    Langsam kommt Ernst Bang näher. Er sieht unglaublich müde aus, und Holzer denkt, zur Beruhigung: es ist ein ungünstiges Licht … so eine Lampe …
    Dann zieht er das Mädchen auf seinen Schooß und scherzt: »Nun, kleine Frau, hast du mich lieb? Und zerbrech ich dich nicht?« Da klammert sich das kleine blonde Mädchen an seinen Hals an, mit einem Ungestüm, das ihn staunen macht.
    Eine Weile fühlt er sie weinen. Aber das können keine tiefen Tränen gewesen sein; denn als er das zarte Gesichtchen in die Höhe zwingt, atmet ihn eine strahlende Seligkeit an, deren er sich gar nicht zu entsinnen weiß.
    Bang steht auf einmal am Fenster und zählt die schwarzen Schornsteine. Er will sich draußen beschäftigen um jeden Preis; dennoch hört er Wort für Wort:
    »Jetzt ist es ja bald überstanden, Kind. Wenn heute Nachricht von Holms kommt, so können wir heiraten, gleich nach dem Examen.« Pause.
    »Du willst doch?«
    Ein glückseliges Lachen.
    »So feiern wir heute die Zukunft.«
    Pause.
    »Du bist doch dabei, Bang?« Und er wartet die Antwort gar nicht ab. »Noch eines feiern wir, richtig: deine Kultur, Bang. Wir sind drei moderne Menschen, drei Menschen ohne Vorurteile, nicht? Wir dekretieren hiermit: es giebt keine Vergangenheit. Die Vergangenheit leugnen wir einfach.«
    Ernst Bang ist rasch näher gekommen, wie um zu retten; er hört noch:
    »Wer von der Vergangenheit spricht, lügt. Abgemacht.«
    Helene ist sehr blaß.
    Hermann hat es nicht bemerkt. Eben hat jemand draußen geklingelt, und er beeilt sich zu öffnen; es könnte von Holms sein. Helene erreicht ihn noch an der Tür. Ihre Lippen brennen. Es ist ein letzter Versuch.
    Aber Holzer hält sich die Ohren zu und lacht laut.
    Da läßt sie ihn los, läßt ihn los und kommt langsam zur Lampe zurück, ganz ruhig.
    Bang steht an der anderen Seite des Tisches, und die Lampe singt zwischen ihnen merkwürdig laut.
    Einmal schaut ihn Helene an mit traurigen, hilflosen Augen. Und Ernst Bang hebt ein wenig die Achseln, unmerklich.
    Das ist alles.

Die Letzten
(1898/99)
    Der Tag wird immer verlegen in der kleinen Mietswohnung, in welcher so schwere, unverständliche Möbel stehen. Aber die Dämmerung begreift alles. Sie weiß, daß das Vergangenheit ist, was da in Stühlen und Schränken und Bildern sich erhält, und daß die engen Stuben, drei Treppen hoch, schuldlos sind an dieser fremden Vergangenheit, wie Menschen, deren Gesicht von irgend einem Vorfahr den Namen eines Gefühls geerbt hat, das sie mit ihren eigenen schwächeren Herzen gar nicht zu tragen vermöchten.
    Die beiden Fenster führen den roten Abend herein, der über die Dächer kommt und leise zu den wartenden Dingen tritt, welche ihn schweigend empfangen. Am freudigsten nimmt ihn die schmale, mit Säulen geschmückte Kommode auf, die wie ein kleiner Altar ist: mit all dem Silber und Glas auf ihr lächelt sie ihm zu.
    Marie Holzer steht gerade vor dieser Kommode. Sie hält von den kleinen Miniaturen, welche da neben den massiven Armleuchtern aufgestellt sind, eine nach der anderen in den Abend und betrachtet jede aufmerksam. Dabei ist ihr junges, helles Gesicht ernst und nachdenklich. Für eine Weile wendet sie es einer Dame in Schwarz zu, die, nah bei ihr, auf dem Fensterplatze sitzt und vor sich hinsieht, ohne daß ihre großen Augen etwas halten. Und so kann Marie Holzer sie ruhig anschauen, als wäre auch das ein Bild: dieses Gesicht, dem man kein Alter zu geben wagt, obwohl es nicht jung ist, diesen feinen Mund, der, von wehen Erinnerungen bewegt, ein unsichtbares Leiden überwindet, und dieses Haar, von dem man zu wissen glaubt, daß es schwer ist. Und vor allem die Vornehmheit dieser zarten, stillen Gestalt, die geduldige Ruhe dieser schwarzen Schultern, auf denen das schlichte Nutzkleid wie eine Würde liegt.
    Jetzt erhebt die schlanke Uhr, die fast verheimlicht zwischen den Fenstern steht, ihre zitternde Stimme und sagt feierlich sechs Schläge, von denen sie jeden anders betont; Marie Holzer läßt sie ganz ausreden und wartet auch noch das Geräusch ab, mit welchem die geteilte Stille sich hinter dem letzten Schlage wieder schließt. Dann sagt sie: »Merkwürdig.« Und nimmt wieder ein Bild von der Kommode und wiederholt: »Merkwürdig.« Da erschrickt die Frau am Fenster: »Sie haben etwas gesagt, Marie?« Das Mädchen stellt zuerst die Miniatur wieder an die alte Stelle, ehe es antwortet. »Gesagt? Eigentlich nicht. Es ist nur so seltsam.« Die Dame sieht flüchtig über

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