Die Erzaehlungen
den Abendhimmel hin und fragt leise: »Was denn, Kind?«
»Daß man hier bei Ihnen immer so anders wird. So eigentümlich fromm. Man ist immer wie zum allererstenmal hier. Man kann das Staunen nicht verlernen.« Pause. Sie biegt die Arme in jungmädchenhafter Art hoch zurück und bettet den Kopf hinein, wie man es wohl während eines leisen Traumes tun mag, den man tief, mit allen Sinnen genießt. Ihre Augen sind auch geschlossen, als sie fortfährt: »Und das giebt es hier, mitten in der Stadt, hoch in diesem lauten, alltäglichen Zinshaus, in dem nüchterne, unwichtige Menschen wohnen. Über ihnen ist dieses Seltsame. Sie tragen es gleichsam auf ihren Köpfen und ahnen nichts davon.« Sie läßt die Arme fallen. »Nein, sehen Sie, Frau Malcorn, daß es so etwas giebt!…«
»Aber was denn eigentlich, Kind?«
»Alles das: diese Bilder und diese Dinge und Sie, Frau Malcorn, und Harald ja, auch Harald.«
Frau Malcorn schüttelt leise den Kopf. »Sind denn einsame Menschen so anders als «
»Einsame Menschen? Ja. Vielleicht. Aber das ist es nicht allein.« Marie Holzer geht zu dem anderen Fenster hin. Und dann: »Sie sind nicht einsam eigentlich. Sie leben unter vielen, bloß nicht unter uns, nicht unter uns Heutigen. Sie haben so viel Bilder hier. Sie haben mir ja schon oft gesagt, wer alle diese Menschen waren. Diese traurigen Frauen alle und diese feierlichen Herren. Und ich weiß auch, daß sie längst gestorben sind. Manche vor zweihundert Jahren, manche noch früher. In Frieden gestorben, aber wissen Sie auch wirklich, daß das alles nur Bilder sind?«
Wie beunruhigt durch die leise Furcht, die diese Frage des Mädchens vor sich herjagt, steht Frau Malcorn auf und kommt zu Marie. Und während sie eine Hand auf Mariens Schulter legt, streichelt diese leise die andere Hand. »Sie sind so zart, so blaß. Als ob viele Menschen von Ihrem Leben mitlebten.« Pause. »Alle diese …«
Man erkennt schon kaum mehr die furchtsame Bewegung, mit welcher Marie in das Zimmer weist. So dunkel ist es geworden. Und in das Schweigen wirft sich von draußen der Sturm.
Aber da beginnt Marie Holzer laut und in anderem Ton: »Sie müssen sich schonen, Frau Malcorn. O, verzeihen Sie, wenn ich so spreche. Ich fühle mich manchmal älter wie Ihre ältere Schwester.«
»Und sind doch so jung?« lächelt Frau Malcorn und küßt sie auf die Stirn.
»Ja, ich bin jung. Und ich bin dessen froh. Ich fühle so viel Kraft in mir. Ich möchte so vieles tun.« Und da ist eine Ungeduld in ihren Händen, als ob sie sie gleich an alles Werden legen wollte, das zu langsam geht.
Dabei erinnert sich Frau Malcorn: »Das hat Harald auch immer gesagt: Ich habe so viel Kraft in mir.«
»Das hat er! Das hat uns zusammengeführt! Zusammengetrieben! Dieses Gefühl von Kraft.« Und Marie erzählt atemlos: »Gleich damals, als ich ihn zum erstenmal sprechen gehört habe, in der Versammlung. Viele hatten vor ihm gesprochen. Ich weiß noch: es handelte sich um die Organisation eines Hilfsvereins zur Unterstützung der Arbeitsunfähigen, ihrer Frauen und Kinder. Die anderen hatten so trocken und von oben her die Sache erörtert. Man sah ihnen an, sie waren satt und kannten die Sorgen vom Hörensagen. Man war müde geworden dabei. Da kam er! Wie ein Sturm war das. Wie ein Erwachen bei Feuerschein! Nicht mehr von der Versorgung dieser paar armen Menschen war die Rede. Als sollte Raum werden für ein neues Geschlecht, mitten unter uns, rücksichtslos.«
Marie Holzer holt tief Atem und macht eine Bewegung, als stellte sie etwas in das Dunkel, als Ziel für ihre hellen, seligen Augen. »O Frau Malcorn, ich sehe ihn immer so vor mir. Er war groß geworden, groß. Und seine Stimme hing über den Unschlüssigen wie ein Schwert. ›Kleingläubige,‹ rief er ›Kleingläubige!‹ Und da kam sein Glauben über mich. Dieser Glaube eines Kindes oder eines Märtyrers. Er hatte seine Hände erhoben, und es war, als hielte er etwas in den Saal hinein, was uns blendete. Unsere Schatten waren auf einmal schwer, fielen uns ab, und wir standen da; Licht von seinem Licht, Herz von seinem Herzen …«
Unter den allzugroßen Worten sucht Marie nach etwas Sagbarem, und merkt nicht, wie Frau Malcorn ihr horchendes Gesicht in den Händen verbirgt. Endlich erzählt sie weiter.
» … Und dann, als alle gingen, drängte ich mich durch. So, mit den Ellbogen, mit den Fäusten, wie’s kam. Ich hätte den gewürgt, der mich gehalten hätte. Zu ihm. Er sah gar nicht müde aus. Nur
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