Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
Vom Netzwerk:
ihnen redeten. »Heute will ich dir von einem Manne erzählen, wie ihm seine liebe Frau starb«, begann der Fremde einmal nach einem solchen Schweigen, und seine Hände zitterten, eine in der anderen. »Es war Herbst und er wußte, daß sie sterben würde. Die Ärzte sagten es; doch die hätten immerhin irren können; aber sie selbst, die Frau, sagte es lange vor ihnen. Und sie irrte nicht.«
    » Wollte sie sterben?« fragte Gita, weil der Fremde eine Pause machte.
    »Sie wollte, Gita. Sie wollte etwas anderes als leben. Es waren ihr immer zu viele um sie her, sie wollte allein sein. Ja, das wollte sie. Als Mädchen, da war sie nicht allein wie du; und als sie heiratete, da wußte sie, daß sie allein war; sie aber wollte allein sein und es nicht wissen.«
    »War ihr Mann nicht gut?« »Er war gut, Gita; denn er liebte sie und sie liebte ihn, und doch, Gita, berührten sie einander nicht. Die Menschen sind so furchtbar weit voneinander; und die, welche einander lieb haben, sind oft am weitesten. Sie werfen sich all das Ihrige zu und fangen es nicht, und es bleibt zwischen ihnen liegen irgendwo und türmt sich auf und hindert sie endlich noch, einander zu sehen und aufeinander zuzugehen. Aber ich wollte dir von der Frau erzählen, welche starb. Sie starb also. Es war am Morgen und der Mann, der nicht geschlafen hatte, saß bei ihr und sah wie sie starb. Sie richtete sich plötzlich auf und hob ihren Kopf und ihr Leben schien ganz in ihr Gesicht eingetreten und hatte sich dort versammelt und stand wie hundert Blumen in ihren Zügen. Und der Tod kam und riß es ab mit einem Griff, riß es heraus wie aus weichem Lehm und ließ ihr Angesicht weit ausgezogen, lang und spitz zurück. Ihre Augen standen offen und gingen immer wieder auf, wenn man sie schloß, wie Muscheln, in denen das Tier gestorben ist. Und der Mann, der es nicht ertragen konnte, daß Augen, die nicht sahen, offen standen, holte aus dem Garten zwei späte harte Rosenknospen und legte sie auf die Lider, als Last. Nun blieben die Augen zu und er saß und sah lange in das tote Gesicht. Und je länger er es ansah, desto deutlicher empfand er, daß noch leise Wellen von Leben an den Rand ihrer Züge heranspülten und sich langsam wieder zurückzogen. Er erinnerte sich dunkel, in einer sehr schönen Stunde dieses Lebens auf ihrem Gesichte gesehen zu haben, und er wußte, daß es ihr heiligstes Leben sei, das, dessen Vertrauter er nicht geworden war. Der Tod hatte dieses Leben nicht aus ihr geholt; er hatte sich täuschen lassen von dem Vielen, das in ihre Züge getreten war; das hatte er fortgerissen, zugleich mit dem sanften Umriß ihrer Profile. Aber das andere Leben war noch in ihr; vor einer Weile war es bis an die stillen Lippen herangeflutet und jetzt trat es wieder zurück, floß lautlos nach innen und sammelte sich irgendwo über ihrem zersprungenen Herzen.
    Und der Mann, der diese Frau geliebt hatte, hilflos geliebt, wie sie ihn, der Mann empfand eine unsagbare Sehnsucht, dieses Leben, welches dem Tod entgangen war, zu besitzen. War er nicht der Einzige, der es empfangen durfte, der Erbe ihrer Blumen und Bücher und der sanften Gewänder, welche nicht aufhörten nach ihrem Leibe zu duften. Aber er wußte nicht, wie er diese Wärme, die so unerbittlich aus ihren Wangen zurückfloß, festhalten, wie er sie fassen, womit er sie schöpfen sollte? Er suchte die Hand der Toten, die leer und offen, wie die Schale einer entkernten Frucht, auf der Decke lag; die Kälte dieser Hand war gleichmäßig und stumm und sie gab bereits völlig das Gefühl eines Dinges, welches eine Nacht im Tau gelegen hat, um dann in einem morgendlichen Wind rasch kalt und trocken zu werden. Da plötzlich bewegte sich etwas im Gesichte der Toten. Gespannt sah der Mann hin. Alles war still, aber auf einmal zuckte die Rosenknospe, die über dem linken Auge lag. Und der Mann sah, daß auch die Rose auf dem rechten Auge größer geworden war und immer noch größer wurde. Das Gesicht gewöhnte sich an den Tod, aber die Rosen gingen auf wie Augen, welche in ein anderes Leben schauten. Und als es Abend geworden war, Abend dieses lautlosen Tages, da trug der Mann zwei große, rote Rosen in der zitternden Hand ans Fenster. In ihnen, die vor Schwere schwankten, trug er ihr Leben, den Überfluß ihres Lebens, den auch er nie empfangen hatte.«
    Der Fremde stützte den Kopf in die Hand und saß und schwieg. Als er sich rührte, fragte Gita:
    »Und dann?«
    »Dann ging er fort, ging, was hätte er

Weitere Kostenlose Bücher