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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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wiederfinden, ja es geschah, daß irgend ein altes Mütterchen bei einem der leeren Beete an der rechten Wegseite kniete und weinte, ohne daß dieses greise Gebet deshalb ihrem Sohne verloren ging, der fern drüben unter hellen Anemonen lag. Aber die Leute von San Rocco, welche diesen Kirchhof sahen, litten nicht mehr so sehr unter dem schweren Tod. Wenn einmal jemand starb (und es traf meist alte Leute in diesem denkwürdigen Frühjahr), so mochte der Weg hinaus zwar immer noch recht lang und trostlos sein, draußen aber wurde es immer etwas wie ein kleines, stilles Fest. Blumen schienen von allen Seiten herbeizudrängen und sich so schnell über die dunkle Grube zu stellen, daß man meinen konnte, der schwarze Mund der Erde habe sich nur aufgetan, um Blumen zu sagen, tausend Blumen.
    Gita sah alle diese Veränderungen; sie war fast immer draußen bei dem Fremden. Sie stand neben seiner Arbeit und stellte Fragen und er antwortete; der Rhythmus des Grabens war in ihren Gesprächen, die der Lärm des Spatens häufig unterbrach. »Weit, aus Norden«, sagte der Fremde auf eine Frage. »Von einer Insel,« und er bückte sich und raffte Unkraut zusammen, »vom Meer. Von einem anderen Meer. Einem Meer, das mit dem eueren (ich höre es manchmal atmen tief in der Nacht, obwohl es mehr als zwei Tagreisen entfernt ist) wenig gemein hat. Unser Meer ist grau und grausam, und es hat die Menschen, die daran wohnen, traurig und still gemacht. Im Frühling trägt es unendliche Stürme herüber, Stürme, in denen nichts wachsen kann, so daß der Mai ungenutzt vorübergeht, und im Winter friert es zu und macht alle zu Gefangenen, die auf den Inseln wohnen.«
    »Wohnen viele auf den Inseln?«
    »Nicht viele.«
    »Auch Frauen?«
    »Auch.«
    »Und Kinder?«
    »Ja, Kinder auch.«
    »Und Tote?«
    »Und sehr viel Tote; denn viele, viele bringt das Meer und legt sie in der Nacht an den Strand, und wer sie findet, erschrickt nicht, sondern nickt nur, nickt wie einer, der es längst weiß. Es gibt bei uns einen alten Mann, der hat von einer kleinen Insel zu erzählen gewußt, zu der das graue Meer so viel Tote brachte, daß den Lebenden kein Raum mehr blieb. Sie waren wie belagert von Leichen. Das ist vielleicht nur eine Geschichte und vielleicht irrt sich der alte Mann, der sie erzählt. Ich glaube sie nicht. Ich glaube, daß das Leben stärker ist als der Tod.«
    Gita schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Und doch ist Mutter gestorben.«
    Der fremde Mann hörte auf zu arbeiten und stützte sich auf den Spaten: »Ja, ich weiß auch eine Frau, die gestorben ist. Aber die wollte es.«
    »Ja,« sagte Gita ernst, »ich kann mir denken, daß man es will.«
    »Die meisten Menschen wollen es, und darum sterben auch die wenigen, welche leben wollen; sie werden mitgerissen, man fragt sie nicht. Ich bin weit in der Welt herumgekommen, Gita, ich habe mit vielen Menschen gesprochen und habe sie gefragt nach ihrem Herzen. Aber es war keiner unter ihnen, der nicht sterben wollte. Gesagt freilich, gesagt hat mancher das Gegenteil, und seine Furcht hat ihn darin bestärkt; aber was sagen die Menschen nicht alles. Dahinter war ihr Wille, der Wille, der nicht spricht, und der fiel, fiel auf den Tod zu, wie die Frucht vom Baum. Da gibt es kein Aufhalten.«
    So kam der Sommer. Und jeder neue Tag, der mit dem Erwachen der kleinen Vögel begann, fand Gita draußen bei dem fremden Mann aus Norden. Zu Hause warnte man sie, man tadelte sie, man versuchte Gewalt und Strafe an ihr, sie zurückzuhalten: es war alles umsonst. Gita fiel dem Fremden zu wie ein Erbteil. Einmal ließ ihn der Podestà rufen und das war ein gewaltiger Mann mit einer breiten drohenden Stimme. »Ihr habt ein Einsamkind, Messer Vignola«, sagte der Fremde auf alle Vorwürfe zu ihm, ruhig und indem er sich ein wenig verneigte. »Ich kann ihr nicht verwehren bei mir und in ihrer Mutter Nähe zu sein. Ich habe ihr nichts geschenkt, noch versprochen und mit keinem Wort hab ich sie jemals gerufen.« Das sagte er ehrerbietig und sicher und ging, da er es gesagt hatte; denn es war nichts hinzuzufügen.
    Jetzt blühte der Garten draußen und dehnte sich aus in seinen vier Hecken und lohnte der Arbeit, die um ihn getan worden war. Und manchmal konnte man früher Feierabend machen und auf der kleinen Bank vor dem Hause sitzen und sehen, wie es auf eine leise und erhabene Art Abend wurde. Dann fragte Gita und der Fremde antwortete und zwischendurch hatten sie lange Schweigsamkeiten, in denen die Dinge zu

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