Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
Vom Netzwerk:
sonst tun sollen? Aber er glaubte nicht an den Tod, glaubte nur, daß die Menschen nicht zu einander können, die Lebenden nicht und nicht die Toten. Und das ist ihr Elend, nicht, daß sie sterben.«
    »Ja, das weiß ich auch schon, du, daß man nicht helfen kann«, sagte Gita traurig. »Ich habe ein kleines weißes Kaninchen gehabt, das ganz zahm war und nie sein konnte ohne mich. Und dann wurde es krank, der Hals schwoll ihm an, und es hatte Schmerzen wie ein Mensch. Und es sah mich an und bat, bat mit seinen kleinen Augen, hoffte, glaubte, daß ich helfen würde. Und endlich ließ es ab, mich anzusehen, und starb in meinem Schooß, wie allein, wie hundert Meilen von mir.«
    »Man soll kein Tier an sich gewöhnen, Gita, das ist wahr. Man lädt eine Schuld auf sich damit, man verspricht und man kann nicht halten. Ein fortwährendes Versagen ist unser Teil bei diesem Verkehr. Und es ist bei den Menschen nicht anders, nur daß da immer beide schuldig werden, einer am anderen. Und das heißt, sich lieb haben: aneinander schuldig werden, nicht mehr, Gita, nicht mehr .«
    »Ich weiß,« sagte Gita, »aber das ist viel.«
    Und dann gingen sie zusammen, Hand in Hand auf dem Kirchhof umher und dachten nicht, daß es anders sein könnte, als es war.
    Und doch wurde es anders. Es kam der August und ein Tag im August, da die Gassen der Stadt wie im Fieber waren, schwer, bang, ohne Wind. Der fremde Mann erwartete Gita an der Kirchhofstür, bleich und ernst.
    »Ich habe einen bösen Traum gehabt, Gita«, rief er ihr zu. »Geh nach Hause und komm nicht wieder her, eh ich dich wissen lasse, daß du kommen sollst. Ich werde vielleicht viel Arbeit haben jetzt. Leb wohl.«
    Sie aber warf sich ihm an die Brust und weinte. Und er ließ sie weinen, so lange sie wollte, und sah ihr lange nach, als sie ging. Er hatte sich nicht geirrt; es begann ernsthafte Arbeit. Täglich kamen jetzt zwei oder drei Leichenzüge heraus. Viele Bürger folgten ihnen; es waren reiche und festliche Begräbnisse, bei denen Weihrauch und Gesang nicht fehlte. Der Fremde aber wußte, was noch niemand ausgesprochen hatte: Die Pest war in der Stadt. Die Tage wurden immer heißer und stechender unter den tödlichen Himmeln, und die Nächte kamen und kühlten nicht. Und Entsetzen und Angst legte sich auf die Hände derer, die ein Handwerk trieben, und auf die Herzen derjenigen, welche liebten und lähmte sie. Und es war eine Stille in den Häusern, wie am größten Feiertag, oder wie mitten in der Nacht. Aber die Kirchen waren erfüllt von verstörten Gesichtern. Und plötzlich begannen die Glocken zu läuten, alle, fuhren auf, brachen in Klänge aus: als hätten wilde Tiere die Glockenstricke angesprungen und sich verbissen in ihnen: so läuteten sie, atemlos.
    In diesen schrecklichen Tagen war der Totengräber der Einzige, der arbeitete. Seine Arme erstarkten bei den größeren Anforderungen seines Amtes, und es war sogar eine gewisse Frohheit in ihm, die Frohheit seines Blutes, welches sich rascher bewegte.
    Aber eines Morgens, als er nach kurzem Schlaf erwachte, stand Gita vor ihm. »Bist du krank?«
    »Nein, nein.« Und er begriff erst allmählich, was sie, hastig und verworren, sprach.
    Sie sagte, die Leute von San Rocco seien unterwegs, gegen ihn. Sie wollten ihn töten, denn »du, sagen sie, hast die Pest heraufbeschworen. Du hast auf der leeren Seite des Kirchhofes, wo nichts war, Hügel gemacht, Gräber, sagen sie, und hast die Leichen gerufen mit diesen Gräbern. Flieh, flieh!« bat Gita und warf sich in die Knie, heftig, als stürzte sie von der Höhe eines Turmes. Und auf dem Wege war schon ein dunkler Haufen zu sehen, der schwoll und näher kam. Staub voran. Und aus dem dumpfen Gemurmel der Menge lösen sich schon einzelne Worte und drohen. Und Gita springt auf und fällt wieder in die Knie und will den Fremden mit sich ziehen.
    Er aber steht wie aus Stein, steht und befiehlt ihr, hineinzugehen in sein Haus und zu warten. Sie gehorcht. Sie hockt im Haus hinter der Tür, und das Herz klopft ihr im Hals und in den Händen, überall.
    Da kommt ein Stein, wieder ein Stein; man hört sie beide in die Hecke schlagen. Gita erträgt es nicht mehr. Sie reißt die Türe auf und läuft, läuft gerade auf den dritten Stein zu, der ihr die Stirne zerschlägt. Der Fremde fängt sie auf, wie sie fällt, und trägt sie hinein in sein kleines, dunkles Haus. Und das Volk johlt und ist schon ganz nahe an der niedrigen Hecke, die es nicht aufhalten wird. Aber da geschieht

Weitere Kostenlose Bücher