Die Erzaehlungen
sich gemeldet hätte. Und da während dieser ganzen Zeit niemand starb in San Rocco, so schien die Sache auch nicht dringend zu sein, und man wartete ruhig ab. Wartete, bis an einem Abend im Mai der Fremde erschien, der das Amt übernehmen wollte. Gita, die Tochter des Podestà, war die erste, die ihn sah. Er trat aus dem Zimmer ihres Vaters (sie hatte ihn nicht kommen sehen) und kam gerade auf sie zu, als hätte er erwartet, ihr auf dem Gange, der dunkel war, zu begegnen.
»Bist du seine Tochter?« fragte er mit einer leisen Stimme, und legte ein fremdartiges Betonen auf jedes seiner Worte.
Gita nickte und ging neben dem Fremden her bis zu einem der tiefen Fenster, durch das von draußen der Glanz und die Stille der Gasse fiel, die im Abend lag. Dort besahen sie einander aufmerksam. Gita war so vertieft in den Anblick des fremden Mannes, daß ihr erst nachträglich einfiel, daß auch er, während aller dieser Minuten, als sie stand und ihn betrachtete, sie angesehen haben müsse. Er war hoch und schlank, und hatte ein schwarzes Reisekleid von fremdartigem Zuschnitt. Sein Haar war blond und er trug es, wie Edelleute es tragen. Er hatte überhaupt etwas von einem Edelmann an sich, er konnte Magister sein oder Arzt; wie merkwürdig, daß er Totengräber war. Und sie suchte unwillkürlich seine Hände. Er hielt sie ihr hin, beide, wie ein Kind.
»Es ist keine schwere Arbeit«, sagte er; und obwohl sie auf seine Hände sah, fühlte sie das Lächeln seiner Lippen, in dem sie stand wie in einem Sonnenstrahl.
Dann gingen sie zusammen bis vor das Tor des Hauses. Die Straße dämmerte schon.
»Ist es weit?« sagte der Fremde und sah die Häuser hinunter bis ans Ende der Gasse; sie war ganz leer.
»Nein, nicht sehr weit; aber ich will dich führen, denn du kannst den Weg nicht wissen, Fremder.«
»Weißt du ihn?« fragte der Mann ernst.
»Ich weiß ihn gut, ich habe ihn als kleines Kind schon gehen gelernt, weil er zur Mutter führt, die uns früh fortgenommen worden ist. Sie ruht dort draußen, ich will dir zeigen wo.« Dann gingen sie wieder schweigend und ihre Schritte klangen wie ein Schritt in der Stille. Plötzlich sagte der Mann in Schwarz: »Wie alt bist du, Gita?«
»Sechzehn«, sagte das Kind und streckte sich ein wenig, »sechzehn, und mit jedem Tage ein wenig mehr.«
Der Fremde lächelte.
»Aber«, sagte sie und lächelte auch, »wie alt bist du?« »Älter, älter als du, Gita, doppelt so alt, und mit jedem Tage viel, viel älter.«
Damit standen sie vor dem Tor des Kirchhofes.
»Dort ist das Haus, in dem du wohnen mußt, neben der Leichenkammer«, sagte das Mädchen und wies mit der Hand durch die Gitterstäbe des Tores an das andere Ende des Kirchhofes hin, wo ein kleines Haus stand, ganz mit Efeu bewachsen.
»So, so, hier ist es also«, nickte der Fremde und übersah langsam sein neues Land von einem Ende zum anderen. »Das war wohl ein alter Mann, der hier Totengräber war?« fragte er.
»Ja, ein sehr alter Mann. Er hat mit seiner Frau hier gewohnt, und die Frau war auch sehr alt. Sie ist gleich nach seinem Tod fortgezogen, ich weiß nicht wohin.«
Der Fremde sagte nur: »so« und schien an etwas ganz anderes zu denken. Und plötzlich wandte er sich an Gita: »Du mußt jetzt gehen, Kind, es ist spät geworden. Fürchtest du dich nicht allein?«
»Nein, ich bin immer allein. Aber du, fürchtest du dich nicht, hier draußen?«
Der Fremde schüttelte den Kopf und faßte die Hand des Mädchens und hielt sie mit leisem, sicherem Druck: »Ich bin auch immer allein « sagte er leise, und da flüsterte das Kind auf einmal atemlos: »Horch.« Und sie hörten beide eine Nachtigall, die in der Dornenhecke des Kirchhofes zu singen begann, und sie waren ganz umgeben von dem schwellenden Schall und wie überschüttet von dieses Liedes Sehnsucht und Seligkeit.
Am nächsten Morgen begann der neue Totengräber von San Rocco sein Amt. Er faßte es seltsam genug auf. Er schuf den ganzen Kirchhof um und machte einen großen Garten daraus. Die alten Gräber verloren ihre nachdenkliche Traurigkeit und verschwanden unter dem Blühen der Blumen und dem Winken der Ranken. Und drüben, jenseits des mittleren Weges, wo bisher leerer, ungepflegter Rasen gewesen war, bildete der Mann viele kleine Blumenbeete, den Gräbern auf der anderen Seite ähnlich, so, daß die beiden Hälften des Kirchhofes einander das Gleichgewicht hielten. Die Leute, welche aus der Stadt herauskamen, konnten ihre lieben Gräber gar nicht gleich
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