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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Richtig. Sie haben ihn gebracht. Auf der Gasse war er bewußtlos zusammengebrochen. Und sie wußte: Es ist doch noch eine Gnade so im Bett… und rührte sich nicht.

Die Flucht
(1896/97)
    Die Kirche war ganz leer.
    Durch das bunte Glasfenster über dem Hauptaltar brach der Abendstrahl, breit und schlicht, wie alte Meister ihn auf der Verkündigung Mariens darstellen, in das Hauptschiff und frischte die verblaßten Farben des Stufenteppichs auf. Dann durchschnitt der Lettner mit seinen barocken Holzsäulen den Raum, und jenseits desselben wurde es immer dunkler, und die kleinen ewigen Lampen blinzelten immer verständnisvoller vor den nachgedunkelten Heiligen.
    Hinter dem letzten, plumpen Sandsteinpfeiler war es ganz Nacht. Dort saßen sie, und über den beiden hing ein altes Stationsbild. Das blasse Mädchen drückte ihre lichtbraune Jacke in die dunkelste Ecke der schweren, schwarzen Eichenbank. Die Rose auf ihrem Hut kitzelte dem Holzengel in der geschnitzten Lehne das Kinn, so daß er lächelte. Fritz, der Gymnasiast, hielt die beiden winzigen Hände des Mädchens, welche in zerschlissenen Handschuhen staken, in den seinen, so wie man ein kleines Vögelchen hält, sanft und doch sicher. Er war glücklich und träumte: sie werden die Kirche zusperren und uns nicht bemerken, und wir werden ganz allein sein. Gewiß gehen Geister hier in der Nacht. Sie schmiegten sich fest aneinander, und Anna flüsterte ängstlich: »Ists nicht schon spät?« Da fiel ihnen beiden ein Trauriges ein; ihr der Platz am Fenster, an dem sie tagaus tagein nähte; man sah eine häßliche, schwarze Feuermauer von dort und niemals Sonne. Ihm sein Tisch, voll mit Lateinheften, auf dem aufgeschlagen lag Πλάτων, συμπόσιον. Die beiden Menschen schauten vor sich hin, und ihre Blicke gingen derselben Fliege nach, welche durch die Rillen und Runen der Betbank pilgerte.
    Sie sahen sich in die Augen.
    Anna seufzte. Fritz legte leise und hütend den Arm um sie und sagte:
    »Wer doch so fort könnte.«
    Anna blickte ihn an und sah die Sehnsucht, die in seinen Augen leuchtete. Sie senkte die Lider, wurde rot und hörte: »Überhaupt sie sind mir verhaßt, gründlich verhaßt. Weißt du: wie sie mich ansehen, wenn ich von dir komme. Sie sind lauter Mißtrauen und Schadenfreude. Ich bin kein Kind mehr. Heut oder morgen, wenn ich was verdienen kann, gehen wir zusammen, weit fort. Allen zum Trotz.«
    »Hast du mich lieb?« Das blasse Kind lauschte.
    »Unbeschreiblich lieb.« Und Fritz küßte ihr die Frage von den Lippen.
    »Wird das bald sein, daß du mich mit dir nimmst?« zögerte die Kleine. Der Gymnasiast schwieg. Er hob unwillkürlich den Blick, ging der Kante des plumpen Sandsteinpfeilers nach und las über dem alten Stationsbild: »Vater vergieb ihnen…«
    Da forschte er ärgerlich: »Ahnen sie was bei dir zu Haus?«
    Er drängte die Anna: »Sag.«
    Sie nickte ganz leis.
    »So«, wütete er, »ich sags ja, also doch. Diese Klatschbasen. Wenn ich nur…« Er grub den Kopf in die Hände.
    Anna lehnte sich an seine Schulter. Sie sagte einfach:
    »Sei nicht traurig.«
    So verharrten sie.
    Plötzlich sah der junge Mensch auf und sagte:
    »Komm fort mit mir!«
    Anna zwang ein Lächeln in ihre schönen Augen, welche voll Tränen waren. Sie schüttelte den Kopf und sah sehr hilflos aus. Und der Student hielt wieder wie früher ihre winzigen Hände, die in schlechten Handschuhen staken. Er sah in das lange Hauptschiff hinein. Die Sonne war erloschen, und die bunten Glasfenster waren häßliche, mattfarbene Kleckse. Es war still.
    Dann begann hoch in der Halle ein Piepsen. Beide schauten auf. Sie bemerkten eine verirrte kleine Schwalbe, welche mit müden, ratlosen Flügeln das Freie suchte.
    Auf dem Heimweg dachte der Gymnasiast an ein verabsäumtes lateinisches Pensum. Er beschloß, noch zu arbeiten, trotz des Widerwillens, den er hatte, und trotz aller Müdigkeit. Aber fast unwillkürlich machte er einen großen Umweg, verirrte sich sogar ein wenig in der sonst gut bekannten Stadt, und es war Nacht, als er in seine enge Stube trat. Auf den Lateinheften lag ein kleines Briefchen. Er las bei der unsicher flackernden Kerze:
    »Sie wissen alles. Ich schreibe Dir unter Tränen. Der Vater hat mich geschlagen. Es ist schrecklich. Jetzt lassen sie mich nie mehr allein ausgehen. Du hast recht. Komm fort. Nach Amerika oder wohin du willst. Ich bin morgen früh um sechs Uhr auf der Bahn. Da geht ein Zug. Vater fährt immer auf die Jagd damit. Wohin

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