Die Erbin Der Welt erbin1
N. K. Jemisin
Die Erbin d er Welt
Roman
Deutsch von Helga Parmiter
blanvalet
Großvater
I ch bin nicht mehr, wie ich früher war. Sie haben mir das angetan, mein Innerstes nach außen gekehrt und mir das Herz herausgerissen. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.
Ich muss versuchen, mich zu erinnern.
Mein Volk erzählt Geschichten von der Nacht, in der ich geboren wurde. Sie sagen, dass meine Mutter ihre Beine während der Wehen zusammenpresste und mit aller Kraft dagegen ankämpfte, mich in diese Welt zu entlassen. Ich wurde trotzdem geboren, wie könnte es anders sein? Der Natur kann man sich nicht widersetzen. Dennoch überrascht es mich nicht, dass sie es versuchte.
Meine Mutter war eine Thronerbin der Arameri. Es gab einen Ball für den niederen Adel — die Art Veranstaltung, die einmal in zehn Jahren stattfindet, um ihr Selbstwertgefühl aufzupolieren. Mein Vater wagte es, meine Mutter zum Tanz aufzufordern; sie geruhte einzuwilligen. Ich habe mich oft gefragt, was er an dem Abend sagte oder tat, dass sie sich so unsterblich in ihn verliebte, denn schließlich dankte sie ab, um mit ihm zusammen zu sein. Das ist der Stoff, aus dem großartige Märchen sind, nicht wahr? Sehr romantisch. In den Märchen leben diese Paare glücklich bis an ihr Lebensende. Die Märchen erzählen nicht, was geschieht, wenn die mächtigste Familie der Welt sich dadurch beleidigt fühlt.
Aber ich vergesse mich. Wer war ich noch gleich? Ach ja, richtig.
Mein Name ist Yeine. Für mein Volk bin ich Yeine dau she Kinneth tai wer Somem kanna Darre, was bedeutet, dass ich die Tochter von Kinneth bin und dass Somem mein Stamm innerhalb des Volkes Darre ist. Stämme bedeuten uns heutzutage wenig, obwohl sie vor dem Krieg der Götter eine größere Rolle spielten.
Ich bin neunzehn Jahre alt. Gleichzeitig bin ich — oder war ich — die Stammesfürstin meines Volkes, die ennu. Für die Arameri, die von den Amn abstammen und deren Gebräuche übernommen haben, bin ich die Baroness Yeine Darr.
Einen Monat nach dem Tod meiner Mutter erhielt ich von meinem Großvater, Dekarta Arameri, eine Einladung an den Familiensitz. Da man eine Einladung der Arameri nicht ausschlägt, machte ich mich auf den Weg. Es dauerte fast drei Monate, um von dem Kontinent Hochnord über die See der Reue nach Senm zu reisen. Obwohl die Darre alles andere als wohlhabend sind, reiste ich standesgemäß, zunächst per Sänfte und Schiff und schließlich in einer Pferdekutsche mit Kutscher. Das war nicht meine Entscheidung gewesen. Der Rat der Darre-Krieger hoffte inständig, dass ich in der Lage sei, uns wieder bei den Arameri einzuschmeicheln, und glaubte, dass diese Extravaganz dabei hilfreich sein könnte. Es ist allgemein bekannt, dass Amn vor der Zurschaustellung von Reichtum Respekt haben.
So ausgestattet erreichte ich mein Ziel an der Schwelle der Wintersonnenwende. Als der Fahrer die Kutsche auf einem Hügel außerhalb der Stadt zum Stehen brachte — vorgeblich, um die Pferde zu tränken, aber wohl eher, weil er ein Einheimischer war und es gerne sah, wenn Fremde gafften —, erhaschte ich den ersten flüchtigen Blick auf das Herzstück des Königreichs der Hunderttausend.
In Hochnord gibt es eine berühmte Rose. Keine Angst, ich schweife nicht ab. Sie heißt Altarschürzenrose. Sie entfaltet ihre Blüten nicht nur in strahlendem Perlweiß, sondern manchmal wächst unten um ihren Stängel herum auch noch eine unvollständige zweite Blume. In ihrer wertvollsten Form wächst der Altarschürze ein Ableger, dessen übergroße Blütenblätter sich rundherum auf dem Boden drapieren. Beide blühen gleichzeitig, Kopf und Schoß tragen Samen, Pracht oben und unten.
So war auch die Stadt Elysium. Unten breitete sich die Stadt über einen kleinen Berg — oder war es ein übergroßer Hügel — aus: ein Kreis aus hohen Mauern, mehrstöckige Gebäude und alles laut Anordnung der Arameri in strahlendem Weiß. Uber der Stadt — kleiner, aber prächtiger, die Schönheit seiner Stockwerke zeitweise von schnell dahinziehenden Wolkenfetzen verdeckt — stand der Palast, ebenfalls Elysium genannt, und er verdiente diesen Namen wahrscheinlich auch eher. Ich wusste, dass sich dort eine Säule befand, eine unglaublich dünne Säule, die dieses kolossale Gebäude trug, aber aus der Entfernung konnte ich sie jedoch nicht sehen. Der Palast schwebte über der Stadt, im Geiste waren sie verbunden und beide so überirdisch in ihrer Schönheit,
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