Die Erzaehlungen
Stimme aus der Ecke: »Das blendet so, verzeihen Sie.« Fink lauschte dem leisen Wohlklang. Dann leuchtete er ganz unwillkürlich mit dem tiefgebrannten Spänchen der Stimme nach und glaubte flüchtig ein dichtverschleiertes Frauengesicht zu sehen. Dann verlöschte das Licht, und er saß wieder im Dunkel und wartete auf die Stimme. Und sie kam: »Es ist furchtbar, mit vielen Fremden eine Nacht im selben Raum zu sein. Nicht wahr? Die Menschen sind so seltsam in der Nacht, und ihre Geheimnisse wachsen über sie hinaus. Es ist furchtbar. Aber Licht blendet so.« Fink fühlte, daß die liebe leise Stimme das ausgesprochen hatte, was ihn ängstigte. Aber der letzte Satz, der wie eine Entschuldigung klang, nahm ihm plötzlich alles Unheimliche, und er wußte, daß eine junge, vielleicht sogar eine schöne Frau neben ihm saß, und war mit einemmal angeregt von der Möglichkeit, die Wartestunden durch ein kleines Abenteuer zu verkürzen.
Er drehte unwillkürlich seinen Schnurrbart und neigte sich zuvorkommend gegen die dunkle Ecke: »Gnädige reisen auch hinunter nach Nizza?«
»Nein, ich kehre zurück in meine Heimat.«
»Schon im März? Es ist noch sehr kalt in Deutschland. Da sind Sie wohl nicht krankheitshalber unten gewesen?«
»Oh, ich bin krank.« Das sagte sie traurig, aber versöhnt. Fink schwieg erstaunt und verlegen. Seine Augen suchten durch das Dunkel, aber er konnte nichts erkennen. Die Luft war dunstig und dick. Aus irgend einem Traum stieg ein Stöhnen, und draußen klang die Klingel wie ein Heimchen.
Um etwas zu erwidern, sagte Fink: »Ich bin nicht krank. Aber mein Bruder. Es geht ihm schlecht in Nizza; deshalb fahre ich hin.«
Aus dem Dunkel kams: »Oh bringen Sie ihn mit zurück. Auch wenn es ihm schlecht geht. Dort in dem frühen Frühling ist alles traurig. Das Leben und das Sterben…«
Theodor Fink machte eine Bewegung, und die Kranke sagte noch ganz tonlos: »Müde und kranke Menschen müssen zu Hause bleiben.« Der Beamte dachte: Sie muß doch noch jung sein, und dabei fühlte er sich dumm und ungeschickt und roh, als er entgegnete: »Das Klima müssen Sie bedenken, Fräulein…«
Sie schien das nicht gehört zu haben und fuhr fort: »Ich fahre auch nach Hause. Ich war traurig bei den Blumen und allein…«
»Sie sind gewiß noch sehr jung, Fräulein«, unterbrach sie Fink und ärgerte sich darüber.
»Ja«, sagte sie einfach, »ich bin jung.« Er ahnte, daß sie lächelte. »Aber deshalb bin ich doch gern allein. Auch zu Hause bin ich viel allein!«
Theodor Fink bereitete die Frage vor: »Wo ist Ihre Heimat?« Allein er konnte sie nicht aussprechen, denn sie erzählte weiter, und ihre Stimme wurde immer weicher und träumerischer dabei und klang wie aus der Ferne.
Sie träumte: »Ein weißes Zimmer hab ich. Denken Sie. Seine Wände sind so hell, daß immer ein wenig Sonne daran bleibt. Auch wenn draußen graue Tage sind. Und es sind viel graue Tage draußen. Aber in meinem Zimmer ists immer licht. Weißer Tüll verhängt die Fenster, und dahinter sind lauter weiße Blumen. Kleine Blumen, die bei mir nie ganz aufblühen. Sie duften auch nicht stark, aber es riecht doch alles nach ihnen: mein Taschentuch, meine Kissen, meine Lieblingsbücher. Jeden Morgen kommt die Schwester Agathe und lächelt. Sie lächelt immer, wenn sie zu mir kommt, und sitzt an meinem Bett in ihrer weißen Nonnenhaube. Ihre Hände fühlen sich an wie Rosenblätter. Sie weiß nichts von der Welt und ich auch nicht: so verstehen wir uns. Nur wenn einmal so selten warm die Sonne scheint, sitzen wir am Fenster und schauen hinaus. Alles ist dann weit von uns, was laut und groß ist: das Meer und der Wald und das Dorf und die Menschen. Am Sonntag, wenn sie läuten, ists wie eine Erinnerung. Gute Menschen aus den früheren Jahren pochen bei mir an. Sie kommen zu mir wie in eine Kirche Blumen in der Hand, auf den Zehen und im Feiertagskleid…«
Es war ganz still. Auch die Klingel draußen schwieg.
Theodor Fink starrte in das Dunkel. Er wartete auf die Stimme. Er fühlte: Sie wird so weitersprechen mit derselben süßen, silbernen Stimme und wird mir vieles sagen. Es ist wie eine Beichte, und ich kann sie nicht verstehen. Vielleicht hört sie einer von den vielen Fremden auf diesen Bänken und versteht sie. Ich kann sie nicht verstehen. Ich fürchte mich vor ihr. Dabei stand Theodor Fink leise auf, ohne daß die Bank knarrte, und tastete zu der Gangtüre. Er verschloß sie ganz vorsichtig hinter sich. Dann eilte er, wie
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