Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
Vom Netzwerk:
Federn vergessen hat und schreiben soll …
    Oft auch geh ich aus mit dem Pistol in der Tasche. Aber dann begegnen mir nur Leute, auf die zu schießen mich ekelt. Kleine verschrumpfte Gestalten, die mit dem bißchen armseliger Daseinskraft am Leben haften, wie die Spinne an ihrem Faden. Und wieder markige Arbeiter, die das Recht des Lebens an ihren schwieligen Händen tragen und auf der dumpfen, rußigen Stirn.
    Wenn ich doch wenigstens wahnsinnig würde, das ist mein Gebet, wenn ich nachts schlaflos daliege.
    Und bisweilen, da ist mir auch: Jetzt kriecht es herauf. Schwül und schrecklich. Und jetzt kichert es mir im Schädel und lacht mich aus lacht… und ich lache mit, laut und gellend. Aber dann ist es doch nicht. Ich nehme ein Zeitungsblatt und lese zwei, drei Zeilen, und sehe, daß ich alles noch erfasse Wort für Wort, Satz für Satz. Nein, auch wahnsinnig darf ich nicht werden! Auch das nicht.«
    Savant kämpfte ein Weinen zurück.
    Alle saßen stumm da und blickten entsetzt auf den Sprecher. Nur der Major, der krebsrot war, hackte mit dem Sporn des linken Fußes leise gegen die Dielen.
    Das klang wie Totenwurmpochen.
    Ein Schauer ging durchs Zimmer.
    Keine Tasse regte sich.
    »Ich bin zu Ende«, raunte der Unglückliche jetzt matt und klanglos.
    »Ein anderer könnte glücklich sein in diesem glatten, farbenarmen Leben. Er könnte gut und viel essen, die gute Verdauung behalten und sehr dick werden.
    Mich aber, mich, der ich einen heißen, sehnenden Drang nach einem Ereignisse in mir trage, von Kindheit an, mich tötet es.
    Meine Wange glüht vor Sehnsucht, aber der Sturm des Lebens kommt nicht, der sie kühlen soll.«

Der Sterbetag
(1896/97)
    Tante Babette tat noch einen tiefen Atemzug. Die Morgensonne lugte wie ein übermütiges Enkelkind durch die schimmerweißen Tüllvorhänge, nahm den längsten Strahl und fuhr damit wie mit goldener Feder erst über die weiße Nachthaube, dann über die feuchte Stirne der alten Frau und zitterte und zuckte dann ohne Rast um Augen, Mund und Nase, bis die Tante obigen tiefen Atemzug tat und mit scheuen roten Augen ins Fenster staunte. Ah! sie reckte sich zu einem wohligen Gähnen. Bei aller Trägheit war etwas Entschiedenes und Abschließendes in diesem Gähnlaut; er war, wie der Gedankenstrich, den einer unter eine fertige gelungene Arbeit setzt. Ah.
    Sie schloß nochmals die Augen und lag mit einer Miene da, als hätte sie just einen Löffel süßen Kaffees verschluckt oder eine Bosheit ausgesprochen, die fein saß. Das Zimmer war ganz licht und ganz still. Immer mehr Strahlen warf die übermütige Sonne herein, und sie staken wie wurfzitternde Speere in den blanken Dielen und den glänzenden Empiretischchen, und irgend ein unsichtbarer Kobold warf hunderte zurück aus dem großen Wandspiegel, just der Sonne ins Gesicht.
    Wie ferne Schlachtmusik summte an den Scheiben eine Fliegenkapelle zu dem hellen Hin und Wider des heiteren Speerstreites, und das sachte Surren sickerte in den leisen, halben Schlummer der guten Tante, und die kühlen Wellen des Frühlingsschimmers spülten immer mehr Fältchen fort von den lächelnden Zügen. Und sie sah ordentlich jung aus, wie sie dann ziemlich energisch in den Kissen aufsaß und im Zimmer herumblickte. Alle Dinge hatten etwas Glänzendes, Neues, und sie freute sich daran. Zarter Hyazinthenduft wellte von den Blüten auf dem Fensterbrett und mengte sich mit dem leisen Lavendel, das aus ihren Kissen stieg. Die alte Jungfer schaute flüchtig auf den Öldruck der Maria, dessen Schatten so furchtbar grün glänzten in dem Voll-Licht. Ihre mageren, harten Hände machten ein hastiges Kreuz, und gleich darauf schalt sie den schläfrigen Kanari, der über dem Fenster hing und trotz des frohen Morgens noch nicht singen mochte. Auf dem Rückweg vom Fenster blieb ihr Blick auf dem Kanapee hangen. Dort lagen fein pedantisch neben einander: ein geschlossener Hut mit breitem schwarzem Trauerschleier, der wie ein nächtiger Wildbach schwer von der Lehne floß, ein Paar schwarze Handschuhe, jeder einzeln, wie in unversöhnlicher Feindschaft, ein noch schwärzeres Urvätergebetbuch, und nur zwei sehr weiße Taschentücher glänzten wie das Schimmelgespann eines jungfräulichen Begräbnisses in dem vielen, tieftrauernden Schwarz. Die Tante starrte mit fremden Augen hin, und alle Falten kehrten wie dunkle Raupen in ihr altes Gesicht zurück. Eine Weile rechnete sie: Montag 12., Dienstag 13., Mittwoch 14., Donnerstag 15., Freitag 16. Und dann

Weitere Kostenlose Bücher