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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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fortwährend an Erwin denken, und er fühlte, daß dieser Gedanke seine Muße sehr beeinträchtigte. Er suchte ihn loszuwerden, indem er den ganzen Nachmittag unter den Leuten auf der Terrasse des Kurhauses verblieb und sich jeden Augenblick einredete, er tue dies, um Zeitungen zu lesen. Er hatte sich auch wirklich bis zu dem Maße in einen Leitartikel vertieft, daß er Erwin erst bemerkte, als er hart vor ihm stand. Der Doktor erschrak heftig über des Freundes verstörtes und erregtes Aussehen und wollte eine Frage an ihn richten. Aber Erwin kam ihm zuvor. Er sagte mit einem hastigen Blick: »Komm.« Der Doktor widersprach nicht, und die beiden gingen stillschweigend die Allee entlang, dem Strande zu. Als sie über die weiße Düne schritten, betrachtete Henke den andern vorsichtig. Erwin watete hastig in dem tiefen Sande, seine Augen waren groß und durstig und seine Lippen sachte geöffnet wie die eines Lauschenden. Dann sah der Doktor die Menschen, die in tiefem, sorglosem Behagen in dem durchsonnten Sande schliefen oder plauderten, und der Kontrast zwischen ihrer müßigen Ruhe und der atemlosen Hast seines Begleiters hatte etwas Unheimliches. Endlich stand Erwin still und zwang auch den Doktor dazu, indem er ihn fest am Handgelenk packte.
    Sie standen hinter einem Korbe. Jetzt vernahm Henke die Stimme einer alten Dame, welche ihm nicht unbekannt war, und dann eine leise, helle, seltsame Mädchenstimme. Er trat vor und zog auch Erwin mit, der am ganzen Leibe zitterte.
    Die alte Dame war die Generalin Werner, die Tischnachbarin des Doktors. Sie streckte ihm herzlich die Hand entgegen, und Henke gewahrte an ihrer Seite ein fremdes junges Mädchen. Es hatte den Kopf leicht gesenkt, und die späte Sonne streute ihre Reflexe in das reiche dunkle Haar. Die Generalin reichte auch Erwin die Hand. Dann wandte sie den feinen Kopf und sagte zärtlich: »Hedwig.«
    Das Mädchen erhob sich, ohne die Augen aufzuschlagen. Die Dame stellte vor: »Meine Nichte.«
    Erwin verneigte sich wie vor einer Königin. Da flüsterte ihm die Generalin ins Ohr: »Sie ist blind.«
    Erwin zuckte zusammen, und der Doktor sprach vom Tennisspielen und von einem Ausflug nach Stubbenkammer. Und später sagte die Generalin: »Ich darf nicht baden; aber meiner Nichte bekommt es sehr gut.«
    Die Blinde nickte: »Ich glaube, es ist sehr gesund.«
    Ihre Stimme war wie ein Lied.
    Aber Erwin dachte: Ihre Stimme ist traurig.
    Der Doktor sprach ohne Unterlaß. Einmal lachten sie laut, die Generalin und er. Hedwig lachte nicht mit. Und Erwin sagte ganz leise zum Doktor: »Wenn sie einmal sehen könnte, wie schön sie ist.«
    Der Doktor zuckte die Achseln. Die Generalin hatte es nicht gehört, sie wies mit der Hand auf das Meer hinaus. Ferne in einem tiefgrünen Streifen zog der große, weiße Dampfer nach Rügen.
    Der Doktor sah nach seiner Uhr und sagte: »Der Rügendampfer, also schon sechs.«
    Die Generalin schwärmte mit ihrer müden, alten Stimme: »Wie schön die Beleuchtung ist.« Der Doktor gähnte.
    Erwin schaute dem Dampfer nach und wartete. Aber das Mädchen schwieg; denn es sah ihn nicht, nur die Generalin sagte: »Es wird kühl.« Die Damen verabschiedeten sich. Erwin verbeugte sich sehr tief. Als die Damen gegangen waren, blieben die beiden schweigend. Der Doktor rieb sich die Hände: »Es wird wirklich kühl.«
    Erwin schaute noch immer hinaus auf das Meer, und die weite Fläche war silbergrau. Er sagte mit trauriger Stimme mehr zu sich selbst, als zum Doktor: »Sie sieht andere Schiffe auf einem anderen Meer. Sie sieht in eine andere Welt. Darum ist ihre Stimme so.«

Eine Tote
Psychologische Skizze
(1896)
    San Remo, im März 189..
    Mein guter, guter Alfred!
    Lang war mein Schweigen. Verzeih! Drei Deiner lieben Briefe muß ich heute in Einem beantworten. Sei bedankt. Sie taten mir so wohl. Die zarte, innige Besorgnis, die in Deinen Zeilen liegt, ist Balsam. Ich bin ja so einsam und so müd. Es ist sonderbar um mein Leiden. Ich bin abgespannt, meine Glieder sind wie zerschmettert; Stunden aber gibts, da glimmert dieser Funken, den sie Leben nennen, wieder auf. Er wird zur Flamme. Lodernd leckt sie empor und ich fühle Kraft, Gesundheit, Zuversicht!… Dummheit. Der Arzt … ich will nicht vom Arzte reden. Aber manchmal ist es sehr schlimm. Die Atembeschwerden, weißt Du, die. … Da spür ich manchmal wie die Luft drückt. Schrecklich schwer, sag ich Dir. Und dieser Husten. So langsam kriecht er herauf aus der Brust und dann schnellt er empor

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