Die Erzaehlungen
gejagt, durch die matterhellten Gänge, an den verschlafenen Bahnwärtern vorbei, dem Ausgang zu. Endlich fand er das hohe Tor. Er wußte nicht, daß er die dunkle, fremde Lindenallee gegen die Stadt hinunterlief, er fühlte nur immer noch: »Ich kann sie nicht verstehen.« Erst als ein erster, früher Postwagen an ihm vorbei gegen den Bahnhof rollte, blieb er stehen und nahm den Hut vom Kopfe. Der Morgenwind regte sich leise über ihm in den alten Lindenästen und wehte lauter kleine, kühle Blüten an seine Stirne.
Die Stimme
(1896/97)
Doktor Henke war in der Stadt ein Muster von Pflichteifer; aber die sechs Urlaubswochen verträumte er, auf dem Rücken liegend, an dem weißen Strand des Ostseebades Misdroy in heroischer Faulheit. Er hatte die Hände als Kissen unter den kurzgeschorenen Kopf geschoben und schaute in die hohen Buchenwipfel. Dabei war er sehr ärgerlich über seinen Freund Erwin, der vor ihm stand und den heranrollenden Wellen kleine Steinchen in den Rachen warf; denn er mußte ihm folgende ernste Rede halten:
»Du bist ja ein Esel. Erholen sollst du dich hier. Nicht solche Tollheiten ausspinnen. Ich kann gar nicht klug daraus werden. ›Eine Stimme.‹ Hat man so was schon gehört? Du bist so einer, den man unter die Haube bringen muß um jeden Preis. Werde übrigens für dich auf Brautschau gehen. Was ich in diesen paar Tagen alles zu hören bekommen habe. Zwei Diebe verteidigen und einen Raubmörder, und die Hinterlassenschaft einer Erbtante, die ohne letzten Willen gestorben ist, regeln, strengt lange nicht so an, wie dir alle deine Dummheiten ausreden. Überarbeitet bist du.«
Erwin lächelte in die Wellen hinaus: »Da magst du ja recht haben. Ich bin sehr müde. Und gerade deshalb sehne ich mich darnach. In einem weichen tiefen Stuhl lehnen und von einer süßen Stimme sich erzählen lassen, wie das Leben ist. Durch diese liebe Stimme sich mit dem Leben versöhnen, und alles wieder liebgewinnen an ihm: seine kleinen Ereignisse und seine großen Wunder.«
Doktor Henke hob ungeduldig den Kopf und suchte die Augen des Freundes. Er hatte keinen Sinn für Poesie, aber von ungefähr fiel ihm ein, daß diese Augen mit ihrer wechselnden Tiefe und ihrem heimlichen, unerwarteten Aufleuchten etwas vom Wesen des Meeres hatten. Er lächelte ironisch und grollte: »Sag mir nur um alles in der Welt, wie bist du denn wieder auf diesen Gedanken gekommen?«
Mit lässiger Bewegung strich Erwin sein aschblondes Haar zurück: »Oh, das ist einfach. Wenn du hinter den Strandkörben im hohen, lautlosen Sande gehst, kannst du die Menschen nicht sehen, die in den Körben sind, aber du hörst ein Rufen oder ein Plaudern oder ein Lachen, und du weißt: So und so ist dieser Mensch. Du fühlst: er liebt das Leben, oder: er hat eine große Sehnsucht, oder: ein Leid, um das seine Stimme weint, selbst in jedem Lachen.«
Der Doktor sprang auf: »Und dann neigt sich mein guter Erwin ein wenig vor und macht ein dummes Gesicht, wenn er sieht, daß die Menschen ganz anders sind wie ihre Stimmen.«
Erwin schüttelte den Kopf: »Ich suche ja keine Menschen. Ich suche die Stimme.«
Er trat an den Doktor heran und zog ihn näher an den Strand. Es war die Stunde, da das Meer seine größten Seltsamkeiten offenbart, in reicher Verschwendung Farbe mit Farbe tauscht, und die Sonne stand schon nahe am Untergang. Ein einziges ockergelbes Segel schimmerte in der hellen Fläche, und fern, in einem mittagsblauen Streifen, zog der große, weiße Dampfer nach Rügen, und flatternde, silberweiße Wellen folgten ihm wie ein Zug Störche.
»Der Rügendampfer; also schon sechs«, brummte der Doktor mechanisch. Erwin nickte. »Siehst du, wir sehen ihn täglich vorüberschwimmen. Wir sind ihn gewohnt. Er erfreut uns nicht mehr. Aber ich denke an eine süße Stimme, die sagt: ›Der Rügendampfer‹, oder: ›Der weiße Dampfer‹, oder: ›Das silberne Schiff‹. Und ich würde der Stimme lauschen, wie einer leisen, heiligen Glocke, und dann würde ich den Rügendampfer suchen am Horizont und ihn sehen, so wie die Stimme es will; und ich würde sicher fühlen: Er ist wie ein weißer Schwan.«
Doktor Henke schüttelte mit energischer Mißbilligung den Kopf und murmelte etwas vor sich hin. Dann schritten die beiden schweigend durch die mannshohen Farrenwedel, und der Buchenwald rauschte über ihnen.
In den nächsten Tagen fühlte sich der Doktor recht unbehaglich. Wenn er, wie er sonst so gern getan, auf dem Rücken im Walde lag, mußte er
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