Die Erzaehlungen
Tochter: »Wie gefällt es Ihnen hier, gnädiges Fräulein?« Sie schwieg und schaute über mich hin, als durchdränge sie mit diesen tiefen, grauen Augen alles Körperliche. Die Mutter flüsterte ihr etwas zu, was ich nicht verstand. Sie schüttelte den Kopf. Die Mutter wiederholte scheinbar ihre Aufmunterung. Felice sagte leise, sehr leise, aber mit weicher, edler Stimme, wie ein Kind, dem man einen Satz vorsagt: »Danke, gut.« Der Magistratsrat verwickelte mich angelegentlich in ein Gespräch über Kanalbauten; das Essen war beendet. Ich erhob mich. Im Auge der Mutter glänzten Tränen. Sie winkte ihrem Gemahl zu. Der zog mich, nachdem die wenigen Gäste den Saal verlassen hatten, in eine Fensternische. »Mein Herr«, sagte er und seine Stimme zitterte, »unser armes Kind hat seit Jahren ein Gehirnleiden, verzeihen Sie ihr sonderbares Benehmen. Wir reisen von Bad zu Bad. Sie werden mein Vertrauen nicht mißdeuten. Das arme Kind!« Der Vater kämpfte mit den Tränen. »Ein entsetzlicher, unglaublicher Wahn…« Der Wirt trat ein und kam auf uns zu. Der alte Herr verstummte. Er drückte mir die Hand, daß es mich schmerzte, und verließ mit hallenden, matten Schritten den Saal.
Ich habe mit Felice gesprochen. Das kam so. Auf einem meiner einsamen Morgengänge traf ich sie wieder. Sie ging wie immer ihres Weges, blickte auf und blieb stehen, als sie meiner gewahr wurde. Eine Weile schaute sie mich regungslos an; dann zuckte es wie eine jähe Erinnerung durch ihr Gesicht. Vernehmlich sprach sie die Worte, die man ihr neulich vorgesprochen: »Danke, gut!«… Ich erschrak. Also doch! Aber schnell faßte ich mich und sagte: »Sie suchen wie ich, Fräulein Felice, einsam den Wald auf, den herrlichen Wald.« »Den herrlichen Wald«, wiederholte sie fast tonlos; aber ihre Brust hob sich unter dem grauen Kleide und in ihrem Auge wogte eine Flut von Farbe und Licht. Dann ging sie weiter und ich neben ihr. Wir sprachen nichts. Ich gab mich der Weihe des Waldes und dem geheimnisvollen Zauber des schönen jungen Wesens hin, das da so ernst neben mir einherschritt. Ein Feldblümchen wucherte am Rande. Ich brach es und reichte es dem Mädchen hin. Sie nahm es, beschaute es mit traurigem Blick, zerriß dann, wie einem augenblicklichen Unmut gehorchend, den dünnen grünen Stengel, der leise stöhnte. Dann machte mir Felice eine abwehrende Bewegung und verschwand wegabseits in den dichten hohen Stämmen. Ich wagte nicht ihr zu folgen. Noch erkannte ich das graue Kleid in wechselndem Licht zwischen den dunklen Baumriesen, dann war sie ganz meinen Blicken entzogen.
So trafen wir uns einige Male. Sie schien Vertrauen zu mir zu fassen. Sie stimmte, wenn ich die Landschaft bewunderte, oder das köstliche Aroma der tannenduftenden Luft pries, leise ein. Schon das war mir Genugtuung. Auf einem dieser Gänge sagte ich zu ihr: »Fräulein Felice, sehen Sie die Blumen, wie froh die blühen, hören Sie den Gesang der Vögel, die Stimmen der Quellen… All das ermahnt zum Frohsinn und Sie sind so traurig?« Als ich aufschaute bemerkte ich, wie mich das Mädchen groß und fragend anblickte; dann bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und weinte, weinte, daß mir ganz weh zu Mute ward. An diesem Tage sprachen wir kein Wort mehr.
Seither war eine Woche vergangen. Vergebens hatte ich auf meinen Wanderungen die liebe, gewohnte Begegnung erhofft, auch im Speisesaale fand sich Felice nicht ein. Sie sei ein wenig unpaß, sagte der Rat und die Mutter hatte rote Augen.
Endlich traf ich sie wieder. Sie kam auf mich zu und sagte: »Sie haben mich heute gefragt… oder nicht heute…« Ich fühlte ihre Verlegenheit, die Vorstellung der Zeit hatte sich ihr verwirrt… »Ich habe gefragt«, ergänzte ich, »Fräulein Felice, warum Sie so traurig sind?« Nie werde ich vergessen, was jetzt folgte. Das Mädchen trat einen Schritt zurück, sie hob den Kopf, ihre ganze Gestalt schien höher, übergroß, das Auge nahm eine eisige Starrheit an, und durch die blassen Lippen hauchte es, ohne daß sie sich regten: »Ich bin tot.«
Unwillkürlich tat ich ein paar Schritte zurück. Und wie sie jetzt mit unmerklichen Tritten langsam auf mich zukam, da war mir wirklich, als ginge von dieser Gestalt ein Moderduft aus, so kalt, so schrecklich. Aufgeschrieen hätt ich wie ein Kind am liebsten. Ich ermannte mich. Ein Schauer ging mir über den Rücken. Aber ich folgte ihr. Bis zu ihrer Wohnung geleitete ich sie. Wir sprachen kein Wort. Mir war entsetzlich zu Mute. Ich
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