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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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hatte Fieber, gewiß. Die Nacht hindurch quälten mich irre Träume. Morgens erwachte ich matt mit schwerem, wüstem Kopfe.
    Jetzt sahen wir uns häufiger. Oft saßen wir stundenlang neben einander auf einer Moosbank; ich erzählte ihr Geschichten. Sie hörte sehr aufmerksam, fast ängstlich zu. Ich trachtete sie möglichst durch heitere Ereignisse zu ermutigen. Dann sagte sie mir: »Du, (seit ein paar Tagen bediente sie sich immer dieses vertraulichen Wortes) weißt du das sicher?« Und wenn ich bejahte: »Ja, aber das waren Menschen, wirkliche lebende Menschen, aber ich bin ja tot, lange tot…« Dann mochte ich sagen, was ich wollte, sie blieb still und ernst.
    Einmal als sie meine Erzählung wieder mit diesen entsetzlichen Worten abgebrochen hatte, wagte ich die Frage: »Felice, wann bist du gestorben?« »Wann?« wiederholte sie und ihre Augen nahmen wieder jene Starrheit an, ihr Körper verlängerte sich… Dann aber zuckte sie zusammen, setzte sich an meine Seite und sagte mit kindlichem, rührendem Zutrauen: »Wenn ich es noch weiß, sollst du’s wissen: Ich war ein Kind, ein kleines Kind, weißt du. So ein Kind, das mit Puppen spielt, Ball wirft und sich an Blumen freut. Das sind viele, viele tausend Jahre her. Ich hatte keine Geschwister, aber ein paar frohe, muntere Spielgenossen, die Maria, die von Bergers«, sie sagte das leise und zählte in kindischer Weise an den Fingern, »die Elsa, die Lene, Gretchen, Kurt, Hans«, beim letzten Namen zögerte sie und brach dann in heftiges Schluchzen aus. Ich konnte sie mit Mühe beruhigen. Dann lächelte sie wieder. »Mutter«, sagte sie mit den Mienen eines entzückten Kindes, »hat mir immer gar schöne Sachen gegeben, Püppchen, so ganz kleine, weißt du, mit wirklichen Schuhen und goldigen Haaren, aber«, über ihr Gesicht floh ein tiefer Schatten, »damals war ich ja noch lebendig und jetzt, jetzt bin ich tausend Jahre tot, tausend Jahre.« Ihr Wort erstarb tonlos. Mich schauerte.
    Felice aber fuhr fort: »Wir spielten immer zusammen. Alle wir Kinder. Wir pflückten Blumen… Blumen…« Sie schien nachzusinnen; dann schüttelte sie mit dem Kopfe: »Ich muß dirs sagen. Es war im Herbst. Ein grauer, grauer Tag drückte auf die Welt. Du mußt zu Hause bleiben, sagt die Mutter. Aber die Uhr tickt so einsam; und die Bilderbücher habe ich so oft gesehen, so oft… und die Mutter geht in die Küche. Ich schlüpfe hinaus in den Garten. Leicht, daß ich einen von den Gespielen seh’… Richtig, dort steht Hans zu Seiten des Gesträuches. Mein Schritt klatscht auf dem durchnäßten Boden; er soll mich nicht hören. Pst!… also auf den Spitzen… so, so… hinters Gebüsch… ein feiner Regen sticht mich in die Augen. Hans bemerkt mich nicht. Er hält etwas in der Hand. Ich schau deutlich: ein Vogel, ein kleiner, lieber Vogel. Was tut er? Er streichelt ihn wohl, so denk ich. Da hör ich piepsen. Piep… Piep… hörst du’s?« Sie faßte mich bei der Hand. »Das klingt so bang; und die Luft war so grau und ich bieg’ die Äste weg… und da, da…« Felice war aufgesprungen, sie stieß die Worte in atemloser Erregung hervor und starrte auf einen Punkt, als stünde dort der Knabe. »Da siehst du, siehst du, er drückt dem kleinen, armen Vogel beide Daumen an die Kehle, der schreit und flattert. Hans aber lacht, siehst du’s, wie er lacht. Und er drückt zu… und ich will schreien und kann, kann nicht… Der kleine Vogel reißt den Schnabel weit auf, weit dann fällt das Köpfchen herab … da, da zuckt mirs so da, da durch«, sie fuhr nach dem Herzen, »und da bin ich gestorben.« Ihr Wort ging tonlos aus. Sie ließ sich neben mir auf die Bank fallen. Ihre Augen waren geschlossen. Kein Atemzug hob ihre Brust… sie lag neben mir, ein entsetzliches Bild des bleichen, bleichen Todes…
    Wir saßen selbander auf der Moosbank. Es war einer jener herrlichen Frühsommertage, wo die Welt eine große volltönende Hymne scheint, die die Schönheit preist des wahren wonnigen Lebens. Der Wald schien ein Tempel, auf dessen stämmigen Säulen die unendliche Decke in blauender Klarheit ruhte; der Wind bewegte mit zartem Hauche die Zweige und aus dem Tannicht stieg des berückenden Duftes schmeichelnder Weihrauch. Stille. Mir war, als ginge an uns vorbei auf dem moosumrandeten Pfade eine gute, milde, segenstreuende Gottheit, der die Menschen zu opfern vergessen, einsam dahin. Ich glaube es war ein Gebet, das mir in der Seele erwachte, tief, tief, ein Gebet zu diesem

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