Die Erzaehlungen
wieder seine alte Überlegenheit. Man trank ihm zu.
»Du«, begann einer der Freunde, »was war denn das damals mit dir, vor den Ferien, du warst je ganz … na, vorwärts, heraus mit der Farbe!«
Da sagte Vinzenz Viktor Karsky mit verstohlenem Lächeln: »Na, der liebe Herrgott…«
»…hat sonderbare Kostgänger«, ergänzten die andern im Chor. »Das wissen wir schon.«
Nach einer Weile, als niemand mehr eine Antwort erwartete, fügte er sehr ernst hinzu: »Glaubt mir, es kommt darauf an, daß man einmal im Leben einen heiligen Frühling hat, der einem soviel Licht und Glanz in die Brust senkt, daß es ausreicht, alle ferneren Tage damit zu vergolden …«
Alle lauschten, als erwarteten sie noch etwas. Karsky aber schwieg mit leuchtenden Augen. Keiner hatte ihn verstanden, allein über allen lags wie ein geheimnisvoller Bann, bis der Jüngste seines Glases Rest mit raschem Ruck austrank, auf den Tisch schlug und rief: »Kinder, ich glaub ihr wollt sentimental werden. Auf! Ich lad euch alle zu mir ein. Da ists gemütlicher, als in der Gaststube, und dann: es kommen auch ein paar Mädel.
Du gehst doch mit?« wandte er sich zu Karsky.
»Freilich«, sagte Vinzenz Viktor Karsky heiter und trank langsam sein Glas leer.
Das Familienfest
(1897)
Nach der Messe stieg der Pfarrer von Maria-Schnee die vier Altarstufen herab, drehte sich um und kauerte sich hinter dem Lettner nieder. Er suchte in den vielen Falten seines Ornates nach einem Sacktuch, schneuzte ehrerbietig ein tiefes Orgel-C und begann: »Lasset uns beten für Herrn Anton von Wick, kaiserlichen Rat, welcher, entschlafen ist im Herrn. Herr sei gnädig deinem treuen Knecht Antonius …«
In der ersten Betbank erhob sich Herr Stanislaus von Wick, der Bruder des seit acht Jahren verstorbenen »treuen Knechtes Antonius«, und schneuzte seine Rührung aus. Als die Seelenmesse überstanden war, ging Herr Stanislaus, als Familienoberhaupt, voran, und hinter ihm lösten sich ein paar schwarzgekleidete Frauen aus den finsteren Bänken los. Auf der Straße reichte er seiner Schwester, der alten Majorin Richter, den Arm, und die anderen folgten zu zweien. Niemand sprach. Alle hatten lichtscheue Augen, die verweint aussahen, und gähnten vor Hunger und langer Weile. Die Familie sollte bei der Tochter des seligen Herrn Anton, Frau Irene, verwitweten Horn, geb. von Wick, zu Tische sein, und die Frau Majorin schlug ein ihrer Behäbigkeit stetig widersprechendes Schrittmaß ein, dessen Ungeduld mit dem pedantischen Trauermarsch ihres steifen Bruders schlecht zusammenpaßte. Herr Stanislaus merkte das sinnlich-irdische Streben ihrer Füße und sagte wie ermahnend: »Der arme Anton.«
Die Majorin nickte nur. Herr von Wick schob nun einigemal die schmalen Schultern in die Höhe und machte dabei ein besorgt lauschendes Gesicht. Er steigerte diese Bewegung und wiederholte sie betont vor der Haustüre, angesichts der ganzen Familie so lange, bis Frau Irene nervös fragte: »Was ist dir, Onkel?« Herr von Wick sammelte zuerst eine ausreichende Menge von Ergebung in seinem bangen Gesicht und stöhnte dann, indem er die ängstliche Bewegung hastig weiterübte: »Bin ganz steif hab mich wohl verkühlt in der Kirche.« Frau Irene nickte nur, und ihre Schwester Friederike lispelte im Tone ergreifendster Entsagung: »Ich auch.« Dann trat die Französin mit dem Sohne der verwitweten Horn, einem siebenjährigen, blassen Jungen, zu den übrigen, und die bleiche Friederike strich ihm leise über die Stirn. Sie dachte: »Er ist so blaß, gewiß hat er sich auch verkühlt.« Beim Treppenaufwärtssteigen im dunkeln Stiegenhause vertraute sie der Schwester: »Oswald hustet.«
Erst als die Familie um den gedeckten Tisch saß, vergaß ein jeder seine eben aus der Seelenmesse mitgebrachte Krankheit. Herr Stanislaus von Wick hatte seinen Platz neben seiner Schwester und neben Friederike. Der Würdige schien die übermäßige Schultergymnastik von früher durch eine götzenbildartige Starrheit gutmachen zu wollen. Er sah über sein Gegenüber, das ältliche Fräulein Auguste, die unermüdliche Tante des Hauses, von welcher niemand ahnte, in welchem Grade sie eigentlich verwandt war, fort in die dunkelste Ecke des Speisezimmers, in welchem zwei hohe kattunbezogene Lehnstühle ratlos bei einem viel zu kleinen Tischchen standen. In diesem Augenblicke sah Herr von Wick so ungeheuer beschäftigt aus, wie in seiner Kanzlei, wenn ihn jemand beim Zeitungslesen störte. Das Messer hatte sich nach
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