Die Erzaehlungen
Art eines Federstiels durch seine harten Finger gedrängt und wartete, bis er unter das Aktenstück seiner momentanen Gedanken das feine, wie aus Zittergras geflochtene ›Stanislaus von Wick‹ setzen würde. Die ganze Umgebung war sich dieses bedeutenden Augenblicks bewußt und verharrte fast atemlos. Nur unten löffelte der kleine Oswald mit verspäteter Eile seine Brühe, und Auguste, die an jedem Familienfest für drei vorangehende und drei folgende Tage sattaß, beschäftigte sich mit der Lösung der Aufgabe, ebensoviel zu reden, wie zu essen. Sie stellte ihre Worte als Schirm vor ihrem übervollen Teller auf, und ihre Phantasie verdaute mit ihrem Magen um die Wette. Diese komplizierte Tätigkeit indessen erhitzte sie nicht wenig, und dann und wann mußte sie mit beidem inne halten.
Während einer solchen Pause rief Herr von Wick seine Augen von den hohen Lehnstühlen ab, gewährte ihnen kurze Rast auf Tante Augustens schattiger Stirne und schickte sie dann mit großer Bedeutung der Hausfrau; die verwitwete Horn, welche sich mehr als geborene von Wick fühlte, empfing die Sendboten ihres Oheims mit Feierlichkeit und unter tiefem Schweigen der Umsitzenden. Sie faßte ihr Obstmesserchen, hob es mühsam bis an den Rand des mit gekröntem ›W‹ bezeichneten Weinglases und schlug einmal an. Diese kleine Ursache hatte eine Fülle mächtiger Wirkungen: Alle Waffen unterbrachen ihre mehr oder weniger freudige Hast, und die Servietten tauchten wie weiße Parlamentärsflaggen aus unterschiedlichen Schooßen und wehten Stillstand und Frieden. Die kaninchenäugige Französin riß den Löffel aus der Hand des Kleinen. »Que veux-tu?« pfauchte das Kind, und die Mademoiselle hauchte in höchstem Erschrecken: »Fais attention!« In diesen Geräuschen waren die ersten Worte des Herrn Stanislaus spurlos untergegangen. Er reckte sich nun noch höher und drückte an seiner Halsbinde, um das, was ihm in der Kehle eingeschlafen war, aufzurütteln. Seine farblosen Augen suchten die beiden Lehnstühle: »Dort«, sagte er und wartete, bis alle Blicke diesem Befehle gefolgt waren, »hat mein armer Bruder Anton, Gott sei ihm gnädig, vor acht Jahren seine Seele ausgehaucht. Seine allerletzten Worte galten dem Wohle unserer Familie. Vertragt euch und helfet einander, hat er mir am Tage vor seinem Tode gesagt. Und gemeinsam und einträchtiglich, wie er es gewünscht hat, begehen wir heute den achten Sterbetag. Gäbe Gott uns die Kraft, in Stille und Gesundheit noch lange sein Andenken zu feiern; wir dürfen sicher sein, der Geist unseres Bruders, beziehungsweise eures Vaters«, er wandte sich bei diesem Wort an die Hausfrau und an Friederike, »Großvaters«, seine gerührten Augen ruhten auf Oswald, der leise und heimlich Brotkrumen mit feuchten Fingern aufpickte, »schwebt segnend über uns.« Ermattet von Anstrengung und Ergriffenheit setzte sich Herr Stanislaus, wobei er trotzdem nicht vergaß, die langen schwarzen Schöße sorgfältig aufzuschlagen. Er hatte am Todestage seines Bruders ungefähr dasselbe gesprochen, und seither veränderte er immer nur fortlaufend die Nummer des Sterbetages. Aber die Worte hatten dadurch, daß sie jährlich nur einmal gebraucht wurden, eine gewisse Frische bewahrt, und Herr von Wick schien auch ein jedes in seinem Mund abzustäuben und zurechtzubiegen, ehe er sie aussprach. Nachdem die Gläser alle einander begegnet waren und sich mit entsprechender Zurückhaltung begrüßt hatten, sagte die blasse Friederike mit heftigem Hüsteln: »Ist Papa in diesem oder in jenem Sessel gestorben?« Aus halbgeschlossenen Lidern schaute sie in die Ecke. Die Hausfrau fand diese Frage unpassend und zuckte die Achseln, Herr von Wick stak noch zu tief in seiner Rührung, die Majorin kaute mit vollen Backen, so daß die Antwort auf Tante Auguste fiel. Sie zögerte auch nicht lange, strich mit der Hand über die grauen Scheitel, wie um einen Teil ihrer Erinnerungen zu wecken, und sagte dann mit heroischer Entschiedenheit: »In dem.« Durch solche genaue und pietätvolle Kenntnisse suchte sie stets ihre sonst etwas rätselhafte Familienzugehörigkeit zu beweisen. Nun gab es ein großes Hin und Wider. Alle standen auf und umstellten betrachtend die beiden Stühle. Endlich trat auch Herr von Wick hinzu, drängte sich hinter die Lehnen und begann deren Rückseiten abzutasten. Dann gab er den gespannt Wartenden Bescheid: »Es ist der, welchem eine Schraube fehlt. Diesem hier fehlt die Schraube, sintemal ist mein Bruder
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