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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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ein Almosen, ein Wörtchen dazu. Die Hausfrau fand es taktlos, an einem solchen Tage so profanes Zeug zu reden, und äußerte einiges darüber an die Majorin; diese nickte zustimmend und kam dadurch dem Rehbraten immer herzlicher entgegen. Friederike hörte gar nicht mehr auf die Universaltante, sondern ließ sich von der Französin zum elftenmale erzählen, daß sie die Absicht gehabt hatte, in ein Kloster zu gehen. Friederike fand das jedesmal ungeheuer interessant und hoffte beim zwölftenmale die Spuren des Romanes zu ergründen, welcher die bleichsüchtige Pariserin zu diesem verzweifelten Entschlusse hätte treiben können. Diesmal wurden sie indessen mitten in der Legende durch die gesteigerte Stimme des Onkel Stanislaus unterbrochen. Herr von Wick hatte sich bemüßigt gefühlt, den alten, getreuen Diener beim Rockschooß festzuhalten und ihm mit gütiger Herablassung zuzuflüstern: »Nun, wir werden nicht alt, mein guter Johann.« Johann konnte nicht antworten. Zuerst weil er zu gerührt war über die Gnade des Großvaters Herrn Peter von Wick, dann weil er bei seiner Harthörigkeit kein Wort der langen Anrede verstanden hatte. Herr Stanislaus wiederholte etwas hastig seine Frage. Sie blieb abermals unverstanden. Herr von Wick, der alles gern glatt erledigt hatte, fand, daß diese rein äußerliche und formelle Angelegenheit zu lange dauerte, und verlor alles Wohlwollen in der Stimme, als er den Alten nun anschrie:
    »Na, Johann wie gehts?«
    Alle waren jetzt aufmerksam geworden.
    Friederike schwieg und die Französin und Tante Auguste und der kleine Oswald, der vor Spannung sogar eine Gabelvoll unterwegs vergessen hatte.
    Und Johann hatte verstanden. Mit der verehrungsvollen Vertraulichkeit alter Diener neigte er sich über den weißen glatten Kopf des Herrn Stanislaus und sagte: »Zu viel Gnade, gnädiger Herr Peter.«
    Er hatte im Jahre Einst den Großvater, zum Unterschied von dessen anderen, im Hause sich befindlichen Brüdern, stets so genannt. Seine Worte kamen in kleinen Pausen, als hätte er nach jedem mühsam suchen müssen, und der kranken Friederike war, als wäre eine lange unaufgezogene, alte Spieluhr irgendwo losgegangen. Vor »Peter« zögerte der alte Johann einen Augenblick; um so seltsamer und auffälliger Klang der Name in die allgemeine Aufmerksamkeit. Herr Stanislaus zuckte zusammen, wurde sehr blaß, und das gütige Lächeln erlosch auf seinen Zügen. Er fühlte die Blicke aller auf sich lasten und kam sich greisenhaft und hilflos vor; denn in diesen Blicken sah er vervielfacht, was er selbst dunkel empfand: Schrecken und Angst. Er schaute der Reihe nach alle an und fürchtete von irgendeiner Lippe zu lesen: »Herr Peter.« Aber sie schwiegen alle. Da wandte er scheu seine Augen nach rückwärts, und mit aller Kraft sagte er sich: Der Alte ist übergeschnappt. Allein es stand niemand mehr hinter ihm.
    Herr von Wick fuhr sich mit der Hand ein paarmal über die schmale Stirne. »Ist dir etwas, Stanislaus?« sagte die Majorin, die sich ein wenig Unbefangenheit bewahrt hatte.
    »Nein, Karoline«, gab Herr Stanislaus tonlos zurück. Dann legte er seine Serviette mit krampfhafter Entschlossenheit neben den Teller, erhob sich, indem er beide Arme an den Tischrand stemmte, und ging mit unsicheren Schritten auf die dunkle Ecke zu, in welcher die beiden Lehnstühle neben dem kleinen Tischchen standen. Ermattet ließ er sich in jenen Sessel fallen, in welchem noch kein von Wick gestorben war. Das war ein Akt der Gerechtigkeit. Alle saßen wie gebannt und blickten auf Herrn Stanislaus. Nur Frau Irene, verwitwete Horn, wagte: »Onkel?«
    Herr von Wick aber winkte leise ab. Er wollte nicht gestört sein. Er wußte, daß dies sein letzter Lehnstuhl sein werde, heut oder morgen; aber über sein letztes Wort war er noch im Zweifel.

Das Geheimnis
(1897)
    Es ist wohl bald dreißig Jahre her, seit jeder echte Karbacher, der einmal Rosine gesagt hat, auch Klothilde sagen muß und umgekehrt. Das kommt so: Klothilde und Rosine wohnten in Karbach seit den sogenannten undenklichen Zeiten beisammen, und jeder gute heimische Bürger, der an den Fenstern der beiden alten Damen vorüberging, hätte viel weniger erstaunen müssen, wenn die alte Kirche, des Städtchens Wahrzeichen, plötzlich einen ihrer Türme verloren hätte, als wenn einmal neben dem weißen, flüchtig gescheitelten Kopf Rosinchens nicht die strengen, straffen, seltsam schwarzen Scheitel Klothildens hinter den roten Geranienstücken aufgetaucht

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