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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Anton in diesem Lehnstuhl gestorben.« Alle blieben noch eine Weile, als warteten sie, ob nicht der Sessel auch ein Wort mitsprechen würde. Als der in seiner teilnahmlosen Ruhe schwieg, begaben sich alle an ihre Plätze zurück.
    »Dort im gelben Kanapee ist die Großmama gestorben«, konstatierte die hüstelnde Friederike. Und nun zeigte man sich gegenseitig alle Möbel, in denen ein von Wick oder eine von Wick in ihrer leiblichen Gestalt sitzen geblieben waren, während ihre Seelen diejenseitigen von Wicks suchen gegangen. Es gab deren nicht wenige; und es war eine große Schande, bei ›von Wicks‹ Stuhl zu sein, wenn nicht irgendwer auf einem gestorben war. Das empfand der kattunbezogene Lehnsessel neben Herrn Antons Sterbepfühl ganz mächtig.
    Die Pause war etwas lang geworden. Die Hausfrau ließ einen ihrer Finger auf den elektrischen Knopf fallen. Während die anderen immer noch letzte Möbel und letzte Worte wiederaufzählten und Friederike mit mattem Lächeln, wie bei jeder Gelegenheit auch diesmal, anführte, daß Großmama von Wick zuletzt etwas Französisches gerufen hatte, trat der ›alte Johann‹, der schon undenkliche Zeiten unter diesem Namen in das Inventar gehörte, ein und balancierte mit einem Rehfilet über das glatte Parkett. Der ›alte Johann‹ war längst seines Dienstes ledig, bezog von verschiedenen Generationen der von Wicks verschiedene Pensionen und bediente nur ganz ausnahmsweise an besonders wichtigen Sterbetagen. Er zog dann seine alte verschossene Livree mit den Silberknöpfen, welche das Wappen und die Umschrift ›constantia et fidelitas‹ trugen, an, stülpte riesige weiße Zwirnhandschuhe über die gichtkrummen Hände und nahm sich in diesem Aufzug aus, wie ein verkleidetes Skelett. Wie ein welkes Blatt trieb er an das Ende des Tisches heran und blieb bei Irene, der verwitweten Horn, kleben. Seine halbblinden Augen mußten sich erst an die Dämmerung des Speisezimmers gewöhnen, und er hielt die Schüssel bloß dem Gefühl nach in der Richtung, in der er eine Person vermutete. Frau Irene wälzte ein kleines Stück Filet mit großer Anstrengung auf ihren Teller und nahm die dazugehörigen Reiskörner wie einen Segen aus den zitternden Händen des Greises, aus denen schon ihr seliger Vater und ihr seliger Großvater ihr Filet empfangen hatten. Dann verbeugte sich Frau Irene verehrungsvoll gegen die Zwirnhandschuhe, und der alte Johann sah aus seiner Vogelperspektive bereits auf die violette Haube der Majorin Richter, die mit tiefem Verständnis die Schüssel durchmusterte. Der greise Diener begann sich dafür zu interessieren, wem diese Haube da unten gehören mag. Eine Weile überlegte er, dann war er ganz erfüllt von der Überzeugung, daß die lila Haube Frau Karoline von Wick, des hochseligen Großvaters Peter ehrsame Ehefrau, sein müsse, und er neigte sich mit wohlwollender Herablassung zu der Hundertjährigen, der er vor mehr als dreißig Jahren den letzten Rehbraten gereicht hatte. Vor dem alten Diener waren tausend Jahre wie ein Tag, und er war sehr erfreut, in dem Herrn Stanislaus von Wick Herrn Peter selbst zu erkennen und in so hohen Tagen recht rüstig zu finden. Bei jedem neuen Schritt erkannte er irgend ein Familienmitglied aus des Großvaters Tagen, und es verlor nun alles Erstaunliche, daß er den kleinen Oswald als Jugendbild des Onkel Stanislaus begrüßte. Die Schwankungen seiner Bratenschüssel bekamen etwas Zärtliches, Schmeichelndes, als er dieselbe um den spitzen Ellbogen des blassen Kindes lenkte. Mit besorgter Aufmerksamkeit folgten die meisten Blicke den Bewegungen des Alten, denn er war eine seltene Sehenswürdigkeit und gleichsam der Inbegriff der irdischen Überreste sämtlicher hochseliger von Wicks.
    Auf schwanken Füßen hatte Johann die Tafel seiner teuren Toten umwandelt; nur vor der Französin hatte er ein wenig gezögert, da er augenblicks keine Besetzung für diese rotäugige Person finden konnte. Allein er tröstete sich mit dem häufigen Versagen seines Gedächtnisses und begnügte sich damit, der Mademoiselle die Bratenschüssel fortzuziehen, ehe sie sich hinreichend versorgt hatte. Die Französin sah sich etwas erstaunt um, vermied aber jedes Aufsehen und sagte zu Oswald:
    »Bubi, tu as trop .« Dabei nahm sie ganz gelassen ein Stück Braten von dem Teller des Kleinen, der dem guten Bissen scheu und schwermütig nachschielte.
    Tante Auguste erzählte währendher lauter geringfügigen Stadtklatsch, und nur ganz selten tat jemand, wie

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