Die Erzaehlungen
der Treppe vor sich her. Da faßt er sie wieder, und jetzt hält er das zarte, angstwarme Hemdchen in der Hand, nur das Hemdchen, und seinen Lippen und Wangen ist es kühl. Es schwindelt ihn, und wie er seine Beute küßt, lehnt er zögernd an der Wand. Dann mit drei, vier Tigersprüngen taucht er hinauf in die Tür des Turmgemachs und erstarrt: hoch vor der Nacht ragt, nackt, der reine weiße Leib, wie vom Fensterrande aufgeblüht. Und reglos sind sie beide. Aber dann, eh er’s noch denkt, heben sich zwei helle, kinderzarte Arme in die Sterne hinein, als wollten sie Flügel werden, es verlischt etwas vor ihm, und vor dem hohen Fensterbogen ist nichts mehr als hohle heulende Nacht und ein Schrei …
»Und du bist wirklich achtzehn?« sagte Zdenko und neigte sich über sein erschrockenes, weinendes Schwesterchen, welches, ganz klein und scheu, in dem Winkel der Küche kaum zu finden war. »So kommen dir deine alten Gespenster auch her, nach Prag, nach? Oder hat Rosalka sie in ihren Töpfen und Pfannen mitgebracht?« Die alte Magd wandte sich grollend ab. »Ja«, zögerte Luisa, »ja«, und atmete stockend auf, »zuerst, wie wir herkamen, hab ich gedacht, ich bin sie los. Wie ich die hellen Häuser gesehen habe und die breiten Gassen, da war mir ganz frei und fröhlich; hier aber auf der Kleinseite ist es fast noch schlimmer als bei uns. Nicht?« Und langsam schaute sich das Mädchen um. Zdenko aber zog sie hinter sich her in die helle Wohnstube. »Natürlich, wie ichs gesagt habe«, rief er seiner Mutter entgegen, »während wir hier reden, ist sie schon wieder bei der alten Hexe draußen und ganz aufgeregt von dem ewigen Unsinn.« Frau Josephine schüttelte leise den Kopf mit den breiten, grauen Scheiteln und sagte: »Wann wirst du denn mal vernünftig werden, Kind?« Sie nähte ruhig fort an weißen Leinenstücken, und in dem Korb neben ihr wartete noch viel Arbeit. Doch nach einer Weile legte die Witwe die zerstochenen Finger in den Schooß und sah der Tochter ins Gesicht. Luisa hatte, von der hellen Lampe geblendet, die Augen geschlossen, und in ihrem zarten blassen Gesichtchen war eine so deutliche Angst zurückgeblieben, daß die Mutter erschrak. Es fiel ihr mit einemmale auf, wie schwach und schmächtig das Mädchen war, und ob sie überhaupt Kraft genug haben würde, im Leben einmal ganz ohne Halt und Hilfe aufrecht zu bleiben. Die gütigen, blaßblauen Augen der Mutter trübten sich in Tränen, es konnte aber auch von der Anstrengung sein; denn das Weißnähen ist eine mühselige Arbeit, und die Lider der Frau Wanka waren stets ein wenig gerötet davon. Luisa, die den Blick gefühlt haben mußte, ging nach einer Weile daran, der Mutter zu helfen. So waren beide Frauen über das Linnen gebeugt, und die Hängelampe beleuchtete grell den grauen und den blonden Scheitel. Jetzt sagte Zdenko: »Ich weiß nicht, ich bilde mir immer ein, die Luisa ist so klein geblieben vor lauter Ehrfurcht. Wirklich. Es kann so sein. Wenn einer immer, von ganz klein auf, lauter so große Dinge sieht wie sie, denkt euch nur das Schloß auf dem steilen Felsen, diese hohen Höfe, die großen Kanonen auf den Schanzen, und endlich in den Sälen Stühle und Bilder und Vasen alles wie für Riesen gemacht dann wächst er diesen Dingen entweder nach …« (Frau Wanka sah ihrem Sohn lächelnd ins Gesicht und nähte dann eifrig weiter) »oder er verliert überhaupt allen Mut, ihnen nachzuwachsen. Denn er muß sich denken: so groß werd ich ja doch nie. Und vor lauter Schauen und Staunen vergehen die Tage, und man vergißt auf sich selbst und darauf, daß diese Dinge doch eigentlich nur ein Beispiel sind. Glaubst du nicht, Luisa?«
»Vielleicht«, nickte die Schwester und unterbrach nicht ihre Arbeit.
»Ich habs ja auch mal empfunden, daß einen das drücken kann als Bub.« Zdenko sah über die Frauen fort ins Unbestimmte. »Aber dann kommt einmal der Ruck, da man sich vor alledem auf die Fußspitzen stellt, statt davor hinzuknieen, und hat man das erst einmal weg, dann ists nicht mehr lange bis zum Drüberhinsehen. Und glaubt mir, das macht alles aus. Nur immer alles überschauen. Der zu höchst steht, ist immer der Herr. Ich hab es immer schon ganz deutlich geahnt, was unsere Zeit so verworren macht und so unsicher; aber jetzt, seit ich hier in der Stadt bin und viele Menschen sehe weiß ichs: daß keiner drüber steht. Ihr sagt mir, das ist falsch: über der Stadt ist der Bürgermeister und über ihm der Statthalter, und der muß
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