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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Vaters Tode überdachte, war er jetzt geneigt, zu glauben, er hätte eigentlich nur einen einzigen Tag gekannt, der, zufrieden und satt, hinter jeder Nacht immer wieder hervorkam bis zu dem ersten schweren Schmerz: dem gewaltsamen Tode des teuren Vaters. Hinter dem lag etwas Lebloses und Leeres, das wie ein Ausruhen war oder wie ein Vergessen. Aber mitten drin so empfand er das war dann eine Türe, ein Tor irgendwo aufgegangen, und nun stürmten sie herein, lauter junge und bunte Tage, die ihm in ungeduldigem Heischen die Hände hinhielten. Was war er ihnen dankbar für ihr Begehren! Wie ein Heimgekehrter stand er da, der Gaben austeilt nach allen Seiten, und die Dinge sind weither, und jeder der Beschenkten weiß sie zu verwenden. Wanka hatte das Gefühl, daß die ganze Welt aus seiner Tasche lebte, und es sollte ihr nicht schlecht gehen dabei. Er war immer in einem Kreise junger Leute zu finden, denen er ernste und lose Einfälle in buntem Durcheinander hinwarf, und sie fanden alle genug darin, um ihre Tage damit zu füllen und ihre Nächte. Er bemerkte nicht das Ziellose in diesen jungen Köpfen; denn er hatte selbst kein Ziel, weil er tausend hatte und heute dieses, morgen jenes zu greifen vermeinte. Diese Art zu leben brachte ihn mit einer großen Menge Menschen in Berührung, und allen gab er sich mit derselben Treue hin, und wenn er sich einmal wieder recht an einem eigenen neuen Gedanken begeistert hatte, so glaubte er es den Menschen danken zu müssen, welche ihn mißtrauisch umstanden. Nach und nach wurde er stiller, hörte nun auch die Gegenreden aufmerksam an und fand, daß er eigentlich nicht imstande war, ihnen zu antworten. Langsam begann er einzusehen, daß alle seine Begeisterungen Bruchstücke eines großen Monologes waren, und dieses Erkennen ernüchterte und vereinsamte ihn sehr.
    Nächtelang saß er jetzt schweigend an dem Stammtisch des Nationalcafés, an welchem Männer verkehrten, die älter und ernster waren als er und von denen er glaubte, daß sie an der Spitze des Volkes ständen. Es waren Dichter und Maler, Schauspieler und Studenten. Sie hatten alle etwas in ihrem Gehaben, was ihn früher stark abgestoßen hatte, allein er suchte sich daran zu gewöhnen. Nach dem Theater fanden sie sich müde und mürrisch zusammen, und wenn sie sich begrüßten, lächelten sie einander mitleidig zu. In ihren Kleidern war entweder etwas übertrieben Vornehmes oder eine grobe Vernachlässigung zu bemerken, und man konnte auf den ersten Blick schwer erkennen, was sie vereinte. Erst einige Gläser Tschaj oder Budweiser Bieres machten begreiflich, daß die Ähnlichkeit in den großen Worten liege, welche immer zahlreicher und ungestümer von ihren Lippen kamen, je später es wurde. Ein Unterschied blieb allerdings noch darin bestehen, daß die in den modernen Kleidern ihre Worte gleichsam nur vor sich auf den Tisch legten mit der Warnung: nicht anrühren, während die anderen sie einfach in die Luft warfen, gleichviel wen sie treffen mochten. Da hörte nun Wanka die Angelegenheiten der »Nation« verhandeln, er erfuhr zum erstenmal von ihrer Bedrängnis und Not, von ihrer stillen und innigen Sehnsucht. Eine Beschämung überfiel ihn plötzlich wie einen Lachenden, der erfährt, daß ein Toter im Hause sei, und er dachte darüber nach, wie es denn geschehen konnte, daß er von all diesem Drückenden gar nichts gemerkt hatte alle Jahre lang. Er dürstete, recht viel davon zu erfahren, aber wenn er sich den Männern wieder zuwandte, entdeckte er, daß sie ganz in demselben Tone längst von anderen Dingen sprachen, von der Kunst und ähnlichem. Und er sah mit einemmale, daß ihre Begeisterung nichts als Heftigkeit war, und daß sie nichts Gemeinsames besaßen als ihre Einbildung. Da zog er sich von ihnen zurück. Er blieb wieder die Abende zu Hause, widmete sich mit mehr Fleiß seinen Studien an der Universität und bildete sich eine Zeitlang ein, es sei alles wie vordem. Bis ihm an solch einem Abend, wie damals, als er Luisa bei ihren Gespenstern in der Küche fand, ganz von ungefähr sein innerstes Nachsinnen zu Worten wurde. Seither wußte er auch, daß er den Leuten auf der Gasse anders in die Augen sah, bemüht, in ihren Mienen die Spuren jenes Leidens zu finden, von dem sein Volk heimgesucht sein sollte. Da und dort glaubte er jetzt wirklich eine gedrückte, geknechtete Gestalt zu bemerken, allein, wenn er näher zusah, erkannte er enttäuscht, daß es nur die Last der Armut war oder des Elends, welche auf

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