Die Erzaehlungen
Schritten durch den Flur und die Gänge kamen, wie sie sie gelernt hatten hinter dem Leichenwagen. Frau Wanka ging oft aus, eilte ein paar Gassen entlang, um planlos wieder heimzukehren. Luisa aber rührte sich nicht von ihrem Platz. Sie hatte keine Phantasien mehr, und in ihren Träumen waren alle Farben so blaß geworden wie die Tage draußen. Manchmal zählte sie die Tropfen an den Fenstern und horchte: es rauschte an ihr vorbei wie ein großer Strom, in dem viele zerbrochene, unverständliche Worte trieben, immer mehr und mehr und sie dachte: wie nach einer Überschwemmung. Dann zuckte sie plötzlich zusammen, als hätte sie jemand gerufen, und begann wieder die vielen rinnenden Tropfen zu zählen.
So kam Allerseelen. Da sehen sogar die breiten Straßen der Neustadt nachdenklich aus. In den vornehmen Blumenläden liegen reiche, prahlerische Kränze bereit, und die fremden Blüten in ihnen können nicht lächeln. Die Vergnügungsspalten der Reklamesäulen sind leer überklebt, nur das Landestheater verkündete die Aufführung der alten Kirchhofkomödie »Der Müller und sein Kind«, und in den Schaufenstern der Kunsthandlungen sind vor die bunten, englischen Drucke drei, vier, fünf dunkle Photographieen geschoben, die Illustrationen zu dem leisen Wehmutliede Hermann von Gilm’s: »Stell auf den Tisch die duftenden Reseden…«
Früh werden auf dem feuchtglänzenden ›Graben‹ die Laternen angezündet, und immer noch fahren Fiacres und Droschken vorbei mit großen Palmenkränzen auf Kutschbock und Wagendach, und an mancher Trambahn ist über die farbige Rücklaterne ein Tannengewinde oder gar ein Kranz von Blech gehängt, der nicht zum erstenmal am Tage der Verstorbenen diese Reise überstehen muß. Über dem unfreundlichen Zizkov sind schon die unglaublich langhalsigen Bogenlampen wie viele, traurige Monde aufgegangen, und drunter hin, vor den Toren des immer weiter wachsenden Totenparkes, ist ein unfestliches Gedränge von Menschen, von verweinten Menschen, die, ein paar halbwelke Blumen in der Hand, in dunkler Sehnsucht sich ihrem Ziele entgegendrängen, von erzürnten Menschen, welche die Hast des Schmerzes nicht begreifen, von teilnahmslosen, von feiernden, von lachenden und beobachtenden Menschen und von vielen anderen. Die Pfade sind durch die vorlauten lauernden Verkaufsbuden verengt, und die Kinder des langen Zuges hängen sich wie Widerhaken an die aushängenden Lampen und Lebkuchen und Spielsachen, so daß immer neue Stockungen geschehen. Mit der Menge aber und über ihr wälzt sich dieser dicke schwere Dunst von traurigen, müde duftenden Blüten, welken Blättern, durchregnetem Erdreich und feuchten Kleidern, in welchem die Worte gleichsam hängen blieben, zu dem weiten leuchtenden Garten. Dort verteilen sich die Massen zwar in die einzelnen Alleen, aber eigentlich sind die wenigsten bestrebt, schnell zu dem Grabe zu kommen, welches sie beschenken wollen. Sie wollen erst auch die anderen Seligen im Festkleid gesehen haben und finden es zu unterhaltsam, an den Steingrüften der Vornehmen hinzuschlendern, die fremden langen Namen zu lesen und sich an den Blumen zu freuen, welche den kostbaren Marmor ganz verdecken. Dann hineinzulugen in die dämmerigen Grabkapellen mit den hellen glänzenden Altären, vor welchen ein verwittertes altes Mütterchen schon den zweiten Tag bemüht ist, den ihr ganz unbekannten Verewigten die gutbezahlten Vaterunser und Gegrüßetseistdu der hinterbliebenen Familienmitglieder begreiflich zu machen. Und aus diesem Schauen von Licht und Glanz schleicht sich eine unbewußte, lebendige Fröhlichkeit in die Gesichter der Menge, welche seltsam absticht von den paar wunden dunklen Menschen, die sich scheu und schwarz am Wegrand hindrücken. In blinder Ungeduld schieben sie da und dort einen Schaufrohen zur Seite, und der denkt hinter ihnen her: Totenvögel, was wollen denn die hier?
Auf dem VII. Friedhof ist es etwas freier und einsamer. Es ist mehr Raum hier; denn nur ein Teil des umzäunten Landes ist mit Gräbern und Grüften erfüllt, weiterhin ist ahnungsloser, gesunder, gutgewässerter Boden, dem man noch die früheren Ernten ansieht und der aus seiner müßig gewordenen Kraft ratlos einen üppigen, wilden, sinnlosen Garten gezeugt hat. Das war eine gute Nachbarschaft für den armen Zdenko Wanka, der immer noch die Reihe der Gräber an der linken Mauer hin abschloß, als wagte niemand zu sterben seither in der großen, abgrundvollen Stadt. Die beiden vereinsamten
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