Die Erzaehlungen
können; mitten drin aber ragte ein stämmiger Apfelbaum, welcher seine kleinen roten Früchte der fern verschimmernden Stadt zu zeigen schien. Ein paar dichtverwucherte Stufen lenkten in einen feuchten und dämmernden Teil des Hanges hinab, und dort standen viele Sträucher von wilden Rosen, deren Zweige Luisa nicht vorbei lassen wollten. Da blieb Rezek stehen, und das Mädchen vernahm die Stimme des Zdenko: »Also das ist der berühmte Hungerturm. Der Ritter Dalibor hat da drinnen aus lauter Sehnsucht die Geige spielen gelernt. Das war doch hier?«
»Ja«, erwiderte Rezek, »aber ich glaube immer, er hat das Geigen schon früher getroffen. Die Sehnsucht singt selten.«
Und da standen sie schon vor der schwerbeschlagenen Pforte des grauen Turmes. Luisa sah empor und bemerkte, daß die breiten Mauern nur teilweise von einem neugezimmerten Dach überspannt wurden. Auf dem freien Rande der Zinne ragte neben einer zerrauften Silberdistel eine schlanke, junge Akazie und hob ihre blassen Blättertrauben mit zärtlicher Anmut in den lichten Himmel hinein. Das war das letzte Bild vom Tage. Es wurde immer feuchter und schwärzer, und die dumpfige Luft legte sich wie ein Schleier vor des Mädchens Augen. »Findet sie uns nach?« hörte sie den Studenten mal fragen. Er hielt ihr die Hand hin. Seine Stimme kam rauh und fremd aus den ungewissen Tiefen des Gewölbes, und Luisa war nicht imstande zu antworten. Sie tastete mit angehaltenem Atem, leise erschauernd, an den eisigen Wänden hin und fand sich erst wieder, als ihr der rötliche Schein eines Lichtes, wie wärmend, aus der nächsten Halle entgegenkam. Da fand sie die beiden Männer und die Frau inmitten des Raumes über irgend etwas gebeugt, und eine schwelende Kerze schwankte an einem Strick gerade über ihren gesenkten Köpfen. Dann glitt das Licht mit einem kreischenden Geräusch tiefer und tiefer an den drei Gesichtern vorbei, welche eine Sekunde lang grell beschienen waren; es sank bis vor ihre Füße und verschwand langsam in einer schwarzen runden Öffnung des Bodens, über der nur noch ein letzter, löschender Glanz hin und her zuckte. Da neigte auch Luisa sich vor und erkannte, wie die Kerze, klein, tief unten ankam in einem zweiten grauen Gemach, unter welchem noch ein drittes, schwarz, zu beginnen schien.
»Oh«, sagte Luisa.
Zdenko faßte ihre feuchte, zitternde Hand: »Achtgeben, Luisa.«
Und dann erzählte die Alte etwas mit einer armen, monotonen Stimme, die sich vor den feuchten Wänden zu fürchten schien und in scheuen Kreisen eng um die vier Köpfe herumschwirrte. »Die Neuen«, sagte sie gerade, leise und heimlich, als wäre das eine liebe, eigene Erinnerung, die sie zum erstenmal jemandem anvertraute, »die Neuen, die hier herunterkamen, erhielten ein Stück Brot und einen Krug Wasser. Ja, und mit dem Brot und dem Wasser mußten sie sich erhalten, und da an dem Loch mußten sie sitzen und zuschauen, wie der, der schon eine Woche unten saß oder zwei, je nachdem (es haben manche Menschen gar so viel zähe Kraft), sich langsam zu Ende hungerte. Na und dann, wenns in Gotts Namen zu Ende war, wurden sie hinuntergelassen …«
»An diesem Seil?« neckte Zdenko.
Die Frau ließ sich nicht stören: »Hinuntergelassen wurden sie und mußten erst den Toten, nämlich den, welchen sie haben zu Ende hungern sehen, hineinstoßen in das Loch am Boden dort sehen Sie.« (Alle neigten sich vor.)
»Manchmal werden sie den Vorgänger wohl halb aufgefressen haben«, lachte Rezek grausam.
»Kann schon sein«, murrte die Alte und fuhr dann in ihrer langgewohnten Erklärung fort.
Luisa lehnte sich an den Bruder: »Es ist tief?« forschte sie.
»Sehr tief.«
»Und kann keiner wieder heraus?«
»Nein«, erklärte jetzt Rezek. »Das Ding ist wie eine Flasche; oben schmal und immer weiter gewölbt nach seinem Grunde zu. Ein Zurückklettern giebts da wohl kaum. Übrigens war das das beste Heilmittel für Übersatte auch heute noch.«
Luisa hörte ihn lachen. Die Beschließerin zog die Kerze halb herauf und trat dann mehr in den Raum zurück. Die Männer folgten ihr. Jetzt eröffnete der flüchtige, scheue Schein eines Zündholzes da und dort ungeahnte Nischen und Gänge, welche im nächsten Augenblick lautlos wieder einzustürzen schienen. Ein unbestimmtes Sich-rühren begann. Das Licht über dem Krater wurde ängstlich, und das breite Dunkel ringsum schien zu erwachen, sich zu dehnen und in wachsenden Gestalten an Luisa vorüberzufluten. Immer deutlicher erkannte
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