Die Erziehung - Roman
Gaspard war überrascht von der Plötzlichkeit dieser Berührung. Zuvor, als Lucas ihn an der Schulter gepackt hatte, hatte er geglaubt, das Schlagen des fremden Herzens wahrgenommen zu haben. Jetzt war es seine Wunde, die unter Lucas’ Fingern pochte. Er ahnte, dass er seinen eigenen Puls gefühlt hatte und noch immer fühlte, als würde sein Blut einzig durch diesen Kontakt an die Hautoberfläche geworfen. »Beim Flößholz ist es selten, kann aber vorkommen«, sagte Lucas. »Gefährlich wird es vor allem, wenn man einen Schlag von den großen Trümmern abbekommt. Da kann man sich die Hand bei brechen. Ich weiß noch, wie mal einer aus dem Wasser gestiegen ist … Das Floß war gegen die Brücke geschlagen, wo dieser Idiot seine Hand draufgelegt hatte. Der hat gebrüllt wie ein Schwein. Seine Hand war danach nur noch ein roter Fetzen, der am Ende des Arms hing und in alle Richtungen zappelte.« Er schüttelte den Kopf, lachte ein wenig. Gaspard dachte an den Säugling und spürte, wie sich tief in seiner Kehle wieder die Übelkeit bemerkbar machte. Als Lucas ihm vorschlug, auf der Terrasse einer Schenke ein Glas zu trinken, war er sofort einverstanden.
Sie setzten sich und schrien die Bestellung. Bald stellte eine Frau mit pferdeähnlichem Gebiss eine Kanne Wein auf den Tisch. Sie stießen auf die Seine an, auf die eingenommenen Livres, führten die schmuddeligen Gläser an die Lippen. Die korkige Flüssigkeit griff mit ihrem Essiggeschmack die Gaumen an, aber in ihren leeren Mägen breitete sich angenehm der Alkohol aus, ging ins Blut über, löste die Zungen. Gaspard fühlte, wie das Blut seine Wangen belebte und in den Schläfen pochte. Er stellte sich seine bläuliche Bahn unter der dünnen Haut vor. Sein Geist schweifte ab. Die Seine vor seinen Augen schien ganz unschuldig, die Schenke beinahe schön. Und Lucas beruhigte ihn durch seine Anwesenheit. Wie er so neben ihm saß und mit ausholenden Gesten sprach, vertrieb er das Bild der Missgeburt, und bald spürte Gaspard auch das Stechen des Splitters in seiner Handfläche nicht mehr. Lucas’ Stimme drang als ständiges Surren an Gaspards Ohr. Er akzentuierte das Gespräch mit lautmalerischen Ausrufen, ließ den Blick abwesend ans andere Ufer schweifen. Paris, das schlaftrunken und schmachtend dalag, schien aus Pappmaché zu bestehen. Darin, fand Gaspard, war es ihm ähnlich, denn auch er fühlte sich unecht, gelähmt. Der Arbeitstag hatte seine Muskeln geschunden, seine eben erst erwachten Wünsche wieder betäubt. Er wollte die Seine, und die Seine hatte sein Verlangen aufgezehrt. Ihre Fluten hatten den Geist ebenso abgestumpft, wie sie die Haut abgefeilt hatten. Und war das nicht auch die Seine in dieser Flasche, die Lucas klirren ließ, wenn er sie an den Rand ihrer Gläser stieß? Dieses Nass, bald schwarz in der Nacht, die unbemerkt hereingebrochen war, war die Essenz des Flusses selbst. Sie betäubte ihn. Der Wein hinterließ unter seiner Zunge einen Geschmack von Hefe. Lucas sagte: »… etwas in dieser Art. Weiß nicht mehr so genau. Dann habe ich diese Arbeit gefunden … Auch nicht schlechter bezahlt als anderswo. Man braucht schließlich was zwischen die Zähne, und ich habe noch keine Frau und keine Gören, keine anderen Münder zu stopfen … Ich denke zwar daran, bin nicht mehr so jung. Und du, hast du jemand, hast du im Westen jemand zurückgelassen, jemand, der nachkommt vielleicht, oder nicht?«
Die Wörter erschlugen Gaspard. Sein Atem stank nach Wein, doch er war sich nicht sicher, ob es überhaupt seiner war oder der von Lucas oder von ihnen beiden. Die Seine , dachte er, lässt einem keine Wahl . Sie setzte sich durch, haftete sich an seine Haut, zwinkerte ihm zu von der undeutlich gewordenen Böschung her. Mit einem lüsternen, schäbigen Auge.
»Wozu wird dieses ganze Holz angeschwemmt?«, fragte er, als hätte ein anderer die Frage gestellt. Er hatte sich nichts dabei gedacht und merkte erst jetzt, wie berechtigt sie war, denn er wusste überhaupt nicht, für welchen Zweck sie den ganzen Tag so geschuftet hatten.
»Im Winter«, antwortete Lucas, »wird das schön brennen, das gibt ein paar hübsche Feuerchen ab, das wärmt ein paar Alte, das …« Seine Stimme wurde von anderen übertönt. Gaspard musste an seine Mutter denken, daran, wie sie im Morgengrauen von Quimper rußverschmiert vor dem noch immer glühenden Herdfeuer saß. Wie fette Asche auf die Mutter rieselte und sie vollständig einteerte. Wie sie sie, ihre Strickerei
Weitere Kostenlose Bücher