Die Erziehung - Roman
ansteckend.«
Der Rücken war ein Tal aus braunen Rinden, das schnurgerade zur Wölbung der beiden bleichen, flaumigen Hinterbacken hinunterlief. Gaspards Zeige- und Mittelfinger drückten sich in die Salbe. Es stank nach Lavendel, Kampfer, Geranienöl, Bohnenkraut und Salbei. Die Unebenheiten der Haut waren rau unter seinen Fingerspitzen, sie zitterten unter seiner Zärtlichkeit, saugten in der Stille des Zimmers das Heilmittel auf.
Gaspard konnte Lucas’ stillschweigende Erleichterung spüren, die Konzentration seines der heilenden Berührung zugewandten Gesichts, das er nicht sah. Als er den Topf wieder schloss, blieb Lucas einen Augenblick reglos, dann bedankte er sich und streifte sein Hemd über. Gaspard spürte unter seinen Fingern noch immer die schuppige Beschaffenheit des Körpers. Er strich den Rest der Salbe an seinem Bein ab. Er empfand für Lucas quälendes Mitleid. Allmählich flaute die Wirkung des Alkohols ab und ließ nichts als eine leichte Übelkeit zurück. Die beiden Männer schwiegen. Eine Kakerlake stürzte, ein kurzer Chitinblitz, die Wand hinunter. Was unterscheidet Lucas eigentlich von der Kakerlake? , sinnierte Gaspard. »Die Größe«, dachte er mit lauter Stimme. Lucas schaute zu Boden, zerdrückte das Tier. »Ja, verfluchte Biester«, stimmte er zu, und auf seinem Gesicht erglühten die Kerzen. Er suchte in einem Haufen Trödel nach einer Nadel, zog Gaspards Hand zu sich heran und stocherte an seiner Haut, um den Splitter aus dem Fleisch zu holen. Gaspard betrachtete Lucas’ Blick, vor dem sich die Rauchkringel der Wachsstöcke blähten. Er erinnerte sich, wie er einmal einen Zirkus besucht hatte, der seine klapprigen Planwagen in der morastigen Landschaft um Quimper aufgestellt hatte. Wild durcheinander waren Frauen mit Bärten, Hermaphroditen, Zwerge und andere Ungeheuer vorgeführt worden. In einem winzigen Käfig hatten sich zwei Affen gelaust, ohne sich durch die Rufe der Schaulustigen stören zu lassen. Hätte man sie lebendig verbrannt, sie hätten mit ihrer Entlausung weitergemacht, ganz einfach, weil ihre Existenz ihren Sinn in diesem Tun fand, dem sie sich mit solcher Verbissenheit hingaben, dass ihr Rücken nackt, von ihren verzweifelten Fingernägeln bis auf die Haut aufgekratzt war. Lucas’ Gesicht zeigte eine ähnliche Anspannung, als er mit der Spitze der Nadel das Weiße der toten Haut zurückstieß, um das Rosa des Fleisches zum Vorschein zu bringen. Gaspards Übelkeit nahm zu. Er meinte zu ersticken, wollte Lucas seine Hand entziehen, ihn wegschubsen, sich aus dem Fenster stürzen, in die stoische Nacht eintauchen. Er stöhnte, als der Splitter herausgezogen wurde und Lucas aus einer Phiole ein wenig Schnaps auf die Wunde goss. »Es wird sich nicht entzünden, ist ganz harmlos.«
Sie breiteten die Decken aus und legten sich nebeneinander hin. Lucas löschte die Kerzen. Sie sprachen nicht, sondern lauschten ihren Atemgeräuschen, die die Dunkelheit rhythmisierten. Unter Gaspards Augenlidern tanzten noch immer die Flammen der Kerzen. Er versuchte, durch das Fenster den Himmel zu erblicken, sah aber nur die Öde des Mauerwerks. Undeutlich machte er die Zimmerdecke aus, während Sägemehl in die Stille hineinregnete – offenbar arbeiteten sich die Termiten durch das Holz, dessen Geschmack er tief in der Kehle zu spüren meinte. Er schwitzte, die Decke klebte auf seiner Haut.
Gaspard horchte auf Lucas’ Schnarchen, als ihn ganz plötzlich eine beklemmende Angst überfiel. Wie ein Gift sickerte das Grauen durch seine Venen. Die Hitze strömte aus seinem Körper, durchfurchte seine Glieder, verkrampfte die Extremitäten. Gaspard unterdrückte einen Aufschrei des Entsetzens. Er riss den Mund auf, meinte zu ersticken, suchte etwas mit dem Blick zu fassen, etwas Tröstliches. Aber hier war alles feindselig, selbst Lucas’ Körper, der sich in der Dunkelheit, Eiter absondernd, bewegte. Er saß in der Falle, Paris schloss seine Schenkel um ihn, wollte ihn in seinem Bauch behalten, um jeden Preis. Gaspard merkte, wie blind er gewesen war. Was hatte er hier gesucht? Er wusste es nicht, er wusste nur, dass es auf keinen Fall dieses schmarotzende Elend war. Lucas’ röchelnde Anwesenheit erdrückte ihn. Die Wände des Zimmers hielten ihn gefangen. Er kam sich lebendig begraben vor, spürte das Gewicht der Erde auf seiner Brust. Er musste aus Paris fliehen. »Fliehen, fliehen«, keuchte er unter der Decke hervor. Doch er wusste auch, dass es zu spät war. Allein beim
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