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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ekstatisches Lächeln. Diese Maske, die man wohl als heiter beschrieben hätte, enthüllte das Blau des Zahnfleisches oder was davon übrig geblieben war, und das Fehlen der Zähne, das bei einem Neugeborenen gewöhnlich rührte. Die knochige Klappe des Kiefers hielt dieses stumme Maul geöffnet, zeigte einen Gaumen, den das Wasser so sehr durchtränkt hatte, dass er von einer blassrosa Flechte überzogen schien. Auf dem Zungenschwamm schmarotzte ein Blutegel, der sich, auf dem Muskel festgesaugt, gierig wand, schwarz und schlangenartig. Die Nase hatte den Fischen als Nahrung gedient. Sie war nur noch ein Stück Knorpel auf zwei tiefen Löchern, ein Schweinerüssel. Ein Auge war noch vorhanden, halb aus seiner Höhle heraushängend. Das andere nichts als eine weitere Öffnung, eine mit Algen gefüllte Vertiefung. Die Haare auf dem Kopf, ein Flaum erst, simulierten eine ordentliche, niedliche Frisur. Der Schädel passte genau in Gaspards Hand, die Hand Gaspards war gemacht für die Größe dieses Schädels. Er musste übel aufstoßen, sein Magen drehte sich ihm um, Galle und das geschluckte Wasser kamen ihm brennend hoch. Er übergab sich, und das Erbrochene lief seinen Oberkörper herunter. Dann ließ er den Kopf los, der mit einem Sauggeräusch ins Wasser zurückfiel. Gaspard schrie, andere kamen herbeigerannt. Gleichgültig betrachteten die Männer dieses Scheingesicht, das flussabwärts davontrieb. Derjenige, der ihn hergebracht hatte, packte ihn an der Schulter, und Gaspard fühlte seinen Puls in der Handfläche. »Das kommt vor«, sagte er. »Diese verdammten Quacksalber schmeißen alles Mögliche über Bord, die kümmern sich einen Dreck darum, was wir rausfischen. Du wirst noch ganz anderes sehen, das hier ist kein Fluss mehr, das ist ein Massengrab. Ein Styx. Der schleppt sämtliche Verdammten von Paris an. Du kannst Köpfe und Arme finden, solche, die sich aus Verzweiflung reingeschmissen haben, solche, die aus Versehen hineingefallen sind, und solche, die man ein wenig am Arsch geschubst hat, um etwas nachzuhelfen.« Gaspard hatte große Lust, ans Ufer zurückzukehren, doch da passierte schon der zweite Zug die Brücke. »Sollte man nicht die Polizei rufen?«, fragte er, die Kehle schmerzend von dem Erbrochenen, dessen Geschmack noch immer da war, seine Zunge imprägnierte, ihm das Gefühl gab, so müsste der Saft schmecken, in dem der Kopf der Missgeburt verweste. Der andere schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Müssen arbeiten, bin doch kein Totengräber.« Er lächelte. Seine Zähne erschienen weiß in dem ganzen Dreck rundherum. »Bist etwa du einer, ein Totengräber?«, fragte er und puffte ihn in die Rippen. Gaspard fröstelte. Obwohl die Sonne hoch stand, fühlte er sich durchfroren. »Nein«, sagte er, während die Zähne gegeneinanderschlugen. Der andere brach in Lachen aus. »Seine arme Mutter würde ihren Balg gar nicht mehr wiedererkennen. Sie denkt schon nicht mehr daran. Vielleicht lässt sie sich bereits den nächsten in den Bauch stopfen, während du den ersten hier rausfischst. Mach dich gefasst, so was kommt vor.« Er zeigte mit dem Kinn auf das Holz, das auf sie zugeschossen kam. Gaspard warf einen Blick auf die dunklen Fluten flussaufwärts. Er überlegte, ob er ans Ufer zurückkehren sollte. Doch der Hunger überkam ihn, und so packte er einen vorübergleitenden Stamm.
    »Ich heiße Lucas«, sagte der andere und streckte ihm die Hand entgegen. Der nordische Typ hatte ihnen für die Schufterei ein paar Livres bezahlt. Und nachdem sie ihre Kleider ausgespült hatten, waren sie in Richtung der Wäscherinnen gegangen, die nach Seife und dieser den ganzen Tag in der Luft hängenden weiblichen Ausdünstung rochen. Gaspard drückte die Hand, stellte sich ebenfalls vor. »Na, Gaspard, du bist nicht von hier, da bin ich mir sicher, woher kommst du?« In einer Ecke seines Bewusstseins tauchte Quimper auf, ekelbehaftet. »Aus dem Westen«, antwortete er. Und der andere gab sich damit zufrieden.
    Als es Abend wurde, ließen sich vor den Schenken und Herbergen geräuschvoll Männer und Frauen nieder. Aus Bierschoppen und Weingläsern lief es über ihre Gesichter und das schwankende, zerkerbte Holz der Tische. Die hässlichen Fratzen glänzten vor Feuchtigkeit, und Gaspard dachte, dass die Fluten der Seine wenigstens vor der Hitze schützten und die Parasiten fernhielten. Der Splitter in seiner Handfläche glänzte unter der weißen Haut. Lucas nahm seine Hand, betrachtete sie, ohne stehen zu bleiben.

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