Die Essenz der Lehre Buddhas
der Körper? Der Geist? Wir machen uns sehr klar, wie dieses Ich existieren würde, sollte es denn existieren. Dann stellen wir fest, dass wir zwar Anteile ausmachen können, aus denen
wir bestehen, dass aber zwischen ihnen oder außerhalb kein Ich zu finden ist. So kommen wir zu dem Schluss, dass wohl kein Ich existiert. Wenn wir das öfter gemacht haben, wird uns diese Ichlosigkeit immer vertrauter und offensichtlicher. Beim Blick in den Spiegel empfinden wir sofort: »Ich existiere nicht wirklich.«
So verfahren wir jetzt auch mit den Dingen, auf denen unsere Ich-Annahme beruht. Wir forschen nach, ob sie eine Identität besitzen. Wir betrachten die Teile unseres Körpers und fragen uns, was und wo eigentlich der Körper ist. Ist er der Kopf? Die Brust? Die Arme? Die Beine? Und wie in Geist und Psyche kein Ich aufzufinden ist, so müssen wir jetzt konstatieren, dass unter den Teilen des Körpers kein Körper zu finden ist. Wenn wir ein Spiegelbild unseres Körpers sehen, erinnert es uns sofort an seine substanzlose Natur. So ist es auch mit dem Geist: Bei der Suche nach ihm gelangen wir zu dem Schluss, dass wir nur Anteile oder Aspekte finden, aber unter diesen nicht auch noch einen Geist.
So überzeugen wir uns schließlich davon, dass »Ich« einfach ein Name ist, den wir seinen Bestandteilen zuschreiben.
Unsere analytische Meditation wird nicht sofort erkennbare Ergebnisse hervorbringen. Aber mit genügend Übung wird uns diese neue Haltung gegenüber uns selbst mit der Zeit zur Gewohnheit, und dann werden sich Veränderungen zeigen. Unser Verständnis der Leerheit wird immer tiefer, bis wir schließlich erkennen, dass es
zumindest im Prinzip möglich ist, uns von dieser ganzen Kausalkette freizumachen, die unserer grundlegenden Unwissenheit entspringt, in der wir am Gefühl eines gesonderten Ichs festhalten.
Klarheit über die Methode
Wir müssen auch über den methodischen Aspekt des Weges zur Erleuchtung meditieren, vor allem über Bodhicitta. Die Meditation über Bodhicitta hat zwei gesonderte Teile: Wir wünschen uns, das Wohl aller Wesen zu erwirken, und lassen diesen Wunsch in uns stärker werden; um das besser erreichen zu können, streben wir nach Buddhaschaft. Die Verbindung dieser beiden Bestrebungen ist das, was Bodhicitta ausmacht.
Kernstück unserer Erzeugung von Bodhicitta ist unser Mitgefühl, das es aufzubauen gilt. Wie schon besprochen haben wir alle den Keim des Mitgefühls in uns. In der Kindheit hing unser Leben von der Zuneigung zwischen uns und unserer Mutter ab. Fördernde Zuneigung haben wir auch von anderen erfahren, die uns nah und lieb waren. Durch analytische Meditation machen wir unser Mitgefühl stärker und umfassender, es entwickelt sich zu einem Gefühl der Sympathie für alle Lebewesen, zu dem Wunsch, dass sie von Leiden jeglicher Art frei sein mögen.
Diese Einstellung entsteht nicht von heute auf morgen, sondern bildet sich durch eifriges Üben im Laufe vieler Jahre. Ebenso geduldig wie engagiert betrachten wir die Leiden der Lebewesen und legen es darauf an, aus der Tiefe unseres Herzens den Wunsch zu empfinden, dass sie alle frei von diesen Leiden sein mögen. Wir beginnen unsere Betrachtung mit den eher krassen und wirklich furchtbaren Formen des Leidens, um schließlich in unsere Meditation auch die subtileren Leiden einzubeziehen, die an der Oberfläche gar nicht wie Leiden wirken. Um den Keim des Bodhicitta ganz ausreifen zu lassen, müssen wir schließlich das allgegenwärtige Leid in den Blick fassen, das mit unserem Haften an einem Ich und mit seinen Folgen zu tun hat, dem Verlangen, dem Widerwillen und der Unwissenheit. Wir nehmen wahr, wie alle Lebewesen hilflos in den Teufelskreisen ihrer eigenen geistigen Plagen gefangen sind. Es entsteht eine starke Abneigung gegen ihre plagenden Geisteszustände – und unsere eigenen.
Um uns wirklich in die Schmerzen anderer einfühlen zu können, vergegenwärtigen wir uns erst einmal unsere eigenen Leiden und gestehen uns ein, dass wir manchmal unseren eigenen geistigen Plagen erliegen. Während unserer Meditation machen wir uns klar, dass Leid einfach deshalb ein fester Bestandteil unseres Lebens ist, weil wir im Teufelskreis des Samsara existieren. So entsteht der Wunsch, uns davon zu befreien. Wenn wir das auf alle anderen Wesen ausdehnen und sie in den Wunsch
nach Befreiung von allen Leiden einschließen, entsteht Mitgefühl. Wir lassen dieses Mitgefühl größer und tiefer werden, bis ein fester Entschluss in
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