Die Eule von Askir
finden, was Gildenmeister Oldin von ihr wissen wollte, dann in diesen alten Texten.
Geistesabwesend schob sie mit einer Fingerspitze ein kleines Licht zur Seite, das schräg hinter ihr über ihrem Kopf schwebte. Es war anstrengend, die verblasste Schrift zu lesen, und so fiel nicht auch noch ihr eigener Schatten auf das vergilbte Papier.
Dunkel war es gewiss nicht in diesem Saal. Über vier eisernen Schalen, die in silbernen Ketten von der hohen, hell getäfelten Decke hingen, schwebten kopfgroße Kugeln, die den großen Raum in gleichmäßiges, milchig weißes Licht tauchten.
Überall in der Stadt, vor allem entlang der großen Ausfallstraßen, die die Zitadelle mit den Außenbezirken verbanden, gab es noch immer die steinernen Obelisken, die an ihren Spitzen schmiedeeiserne Körbe trugen. Einst, so hieß es, hatten über diesen Körben gläserne Kugeln von gut einem Schritt Durchmesser geschwebt, die in der Nacht aus den Körben aufstiegen und Licht spendeten. Die meisten dieser gläsernen Kugeln waren schon lange verschwunden, heruntergefallen und zersplittert, nur hier und da gab es noch eine, die ruhig und still in ihrem eisernen Korb lag. Aber geleuchtet hatten sie schon lange nicht mehr.
Nur hier im Turm der Maestros, im Eulenturm, wie man ihn landläufig nannte, wirkte noch die alte Magie, und Desina war dankbar dafür. Ohne diese magisch leuchtenden Globen hätte sie schon Hunderte von Kerzen verbraucht. Das Licht aber, das sie eben so gedankenverloren zur Seite geschoben hatte, war ihr eigenes. Und noch vor wenigen Wochen wäre es ihr nicht möglich gewesen, es zu erzeugen.
Einst war der Weltenstrom durch diese Stadt geflossen, ein mächtiger Strom der Magie, doch dann plötzlich, vor über sieben Jahrhunderten, war er versiegt. Jetzt war nur noch ein Rinnsal von dem übrig, was einst die mächtigen Werke Askannons, des Ewigen Herrschers, und seiner Baumeister angetrieben hatte.
Manche der alten Magien, einst in Stein und Stahl, Glas und Gold verankert, hatten die Zeiten überdauert, andere verbrauchten sich, wie die gläsernen Globen, die nach und nach herabsanken, bis sie ausgebrannt und leer in ihren eisernen Körben lagen, oder herabstürzten und zersplitterten.
Doch vor fünf Wochen war überraschend der Weltenstrom zur Reichsstadt zurückgekehrt, und jetzt regten sich hier und da die alten Magien wieder. Was geschehen war und wie, das vermochte sich auch Desina nicht zu erklären, und doch, es war so. Endlich war es ihr möglich gewesen, die dritte Prüfung des Wissens abzulegen, an der sie so lange verzweifelt war, eben jene Prüfung, die ihr das Recht gab, die blaue Robe einer Maestra des Turms zu tragen. Sie war jetzt eine vollwertige Eule, die einzige Eule Askirs, und doch hatte sie noch so viel zu lernen, während sie gleichzeitig immer mehr Aufträge erhalten würde, mit deren Erfüllung sie dem Wohl der Stadt zu dienen hatte. Aufträge wie den, an dem sie gerade arbeitete.
In der alten Schmiede drüben am Arsenalsplatz gab es ein großes Rad, das einst mächtige Walzstraßen und Hämmerwerke angetrieben hatte. Sie hatte es selbst ausgiebig studiert, ein riesiges Rad, hoch wie ein Haus, kunstvoll aus Stahl, Kupfer und Gold geschmiedet, gut fünfunddreißig Schritte im Durchmesser und gute sechs Schritte breit, so schwer, dass es ihr kaum vorstellbar schien, wie es einst aufgerichtet worden war, oder wie es gar möglich war, es mit seinen Lagerzapfen in den gewaltigen Rahmen aus Stahl einzuhängen, der es heute noch trug. Mit einem komplizierten Laufwerk aus breiten Lederriemen und Rädern und Stangen, die noch immer überall unter der Decke der alten Schmiede hingen, hatte dieses Rad einst die mächtigen Blasebälge, Hämmerwerke und Walzstraßen angetrieben.
Doch seit Jahrhunderten hatte es sich nicht mehr bewegt. Jetzt waren es Ochsen, die tagein, tagaus auf riesigen Tretmühlen die Bänder am Laufen hielten und doch nur einen Teil der alten Werke bedienen konnten.
Jahrhundertelang hatte man sich damit abgefunden, doch jetzt, da die Magie wieder floss, hier und da vereinzelt sogar die Globen auf den Obelisken emporstiegen, um die Straßen mit ihrem sanften Licht zu erfüllen, hatte der Gildemeister der Schmiede, Meister Oldin, Desina gebeten, herauszufinden, ob es nicht doch möglich wäre, dieses alte Rad wieder in Bewegung zu setzen.
Sie las weiter, las von den Fundamenten und einem mächtigen Kristall, der in den Tiefen der Schmiede eingesetzt worden war. Ein Gedanke kam ihr,
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