Die ewige Bibliothek
sieben Bücher durchgehend zu illustrieren, musste er aus Zeitgründen aufgeben.)
Das alles ist typisch James: Er weiß sehr genau, was er kann, und überschätzt sich nur selten – wenn doch, dann hat es in der Regel mit den zeitlichen Grenzen zu tun, die er sich setzt.
Wenn es überhaupt etwas gibt, das ich an seiner Arbeit auszusetzen habe, dann allerhöchstens die Tatsache, dass er Texte überarbeitet und überarbeitet. Und noch mal überarbeitet. Aber ich bin kein Verleger, daher muss ich mir über Abgabetermine nicht den Kopf zerbrechen.
Während ich diese Einleitung schreibe, liegen die ersten vier Bände von Mythenwelt bereits komplett in meiner Schublade, der fünfte ist so gut wie abgeschlossen, der sechste und siebte sollen in den nächsten Monaten eintrudeln. Nichts von all dem, was in diesen Romanen zu finden ist, habe ich so erwartet – selbst jene Elemente, die von mir stammen, haben durch James’ Talent eine Wandlung erfahren, die so kaum abzusehen war. Mythenwelt ist – und das darf ich sagen, obwohl mein Name im Titel steht, denn im Grunde ist das Ganze das Werk von James Owen – die verblüffendste, verrückteste, humorvollste und cleverste Geschichte, der ich seit langem begegnet bin. Wenn Sie den ersten Band, Die ewige Bibliothek, gelesen haben, werden Sie ganz genau wissen, was ich meine.
Es läge nahe, all die Einflüsse und Inspirationen aufzuzählen, die ich darin gefunden habe – aber sie beziehen sich auf so unterschiedliche Autoren, Bücher und, ja, Comics, dass es den unvorbereiteten Leser vermutlich eher verwirren als begeistern würde. Nur so viel: Die ewige Bibliothek bewegt sich mit solch ungeheurer Sicherheit auf einem spiegelglatten Terrain zwischen Charles Dickens, Umberto Ecos Foucaultschem Pendel und den Visionen des Comic-Altmeisters Jack Kirby, dass einem beim ersten Lesen buchstäblich der Atem stockt. Die Begründung etwa, die James für den Bayreuth-Vorfall und seine Folgen entwickelt hat, ist einer der wahnwitzigsten Weltentwürfe der modernen Phantastik. Und noch mal: Ich darf so etwas behaupten, weil alles, was Sie gleich lesen werden, so turmhoch über mein anfängliches Konzept hinausgeht, dass es im Grunde etwas vollkommen Eigenständiges ist. Mittlerweile lese ich diese Bände wie fremde Bücher, unabhängig von meinem Namen auf dem Cover, und das ist vermutlich das größte Kompliment, das ich dem Autor machen kann.
Ach ja, und eine Warnung: Erwarten Sie von den nächsten Bänden auf keinen Fall einfach nur mehr von den gleichen Zutaten – Sie könnten eine ziemliche Überraschung erleben. Jedes Buch unterscheidet sich vollkommen von seinen Vorgängern; jedes ist auf seine Weise ein kleiner Geniestreich. Glauben Sie mir oder lassen Sie es bleiben – am Ende, in ein paar Jahren, werden sie gewiss ganz meiner Meinung sein.
Kai Meyer
Juli 2002
PROLOG
Der Rabe
Juda wartete.
Er wartete schon lange. Er hatte noch nie in seinem Leben auf etwas so lange gewartet wie auf dieses Ereignis. Und er hatte nicht etwa passiv gewartet, sondern mit der Geduld, der es bedarf, ein Spinnennetz zu weben, dessen Fäden sich nach vielen Monaten behutsamer Arbeit zu einem Gewebe von bemerkenswerter Vielschichtigkeit verbinden.
Im Laufe seiner nicht einmal zwanzig Lebensjahre hatte Juda manches Mal anderen Menschen in die Augen geschaut und darin nicht sein eigenes Spiegelbild, sondern das eines Tieres erblickt. Er wusste, dass dies nicht nur der Einschätzung anderer entsprach, sondern auch seiner eigenen. Bezeichnenderweise waren es für einen Gegner die kaltblütige Präzision seines Handelns und die tiefe Gleichgültigkeit seiner Augen, die ihn als Tier kennzeichneten. Für ihn selbst war es die Erkenntnis, dass nur animalischer Nachwuchs in der Lage ist, kurz nach der Geburt für sich zu sorgen und ein Gefühl für die Umwelt zu entwickeln. Menschen unterscheiden sich von Tieren durch ein Bewusstsein ihrer selbst, doch da die meisten Leute, denen Juda begegnet war, diese Empfindung entweder ignorierten oder sie verkümmern ließen, fand er es nicht weiter schlimm, als Tier zu gelten.
Das Elendsviertel im Londoner Osten war deutlich in seine Erinnerung eingebrannt. Dort war er als Sohn einer Frau geboren worden, die sich zu gleichen Teilen aus Faulheit und Wodka zusammensetzte. Ein Vater folgte dem anderen. Ein stämmiger Mann namens Vaughn, der sein Geld mit dem Ausnehmen von Fischen verdiente, blieb am längsten.
Er bemerkte als Erster, dass der dreijährige
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