Die ewige Bibliothek
blutigen Schleim auf den Boden und betrachtete ihn. »Eine komische Angewohnheit ist das«, sagte er und seine Wangen strafften sich. »Ist Ihnen jemals aufgefallen, wie menschlich es ist, die eigenen Ausscheidungen zu untersuchen? Kleine Kinder begutachten ihren Kot, Teenager riechen ständig an ihren eigenen Achselhöhlen, und ich glaube nicht, dass es einen Menschen auf diesem Planeten gibt, der nach einem ordentlichen Nieser nicht in sein Taschentuch sieht.« Er hustete noch einmal und spuckte einen weiteren fasrigen Klumpen aus. »Glauben Sie, dass das ein Versuch ist, nach Mustern im Chaos zu suchen?«
»Das klingt eher wie ein Dialog aus einem dieser schauderhaft prätentiösen Independent-Filme«, erwiderte Juda. »Netter Versuch, trotzdem.«
Der Historiker wurde erneut von einem Hustenanfall heimgesucht, und Juda sah ihm besorgt zu. »Ich hoffe, Sie haben nicht allzu große Schmerzen? Ich lasse andere nicht gern unnötig leiden, und ich genieße unsere Unterhaltung ausgesprochen. Ich hoffe sehr, dass Sie noch ein paar Minuten durchhalten.«
Gerade lange genug, dachte Michael. So lange, bis irgendjemand kommt. Wie viel Zeit war eigentlich vergangen? Zehn Minuten? Eine Stunde? Er wusste es nicht.
Mit einer großen Willensanstrengung schob er sich seinen zerknitterten Mantel tiefer unter die Taille, um den Blutfluss aus seinem Rücken etwas zu stillen, und versuchte sogar ohne großen Erfolg, sich aufzusetzen, damit er den jungen Mann besser ansehen konnte. »Die anderen Bücher?«, fragte er mit aufrichtiger Neugier. »Die hätte ich gern studiert.«
»Ich hätte sie Ihnen auch gerne gezeigt. Aber, wie gesagt, ich wusste, dass Sie das vom Sturluson ablenken würde. Und wenn diese Umkehrung ungenutzt verstrichen wäre, hätte ich schon wieder ganz von vorn beginnen müssen.«
Michael ließ seinen Kopf gegen eine der Bodenlampen sinken und lachte schwach. »Schon wieder? Jetzt weiß ich, dass Sie mich verarschen«, sagte er. »Machen Sie, dass Sie hier rauskommen, Juda oder Obskuro oder Odin oder wie Sie verdammt noch mal heißen.«
»Sie glauben doch nicht, dass unser kleines Melodrama hier die erste Umkehrung ist, die es gegeben hat, oder?«, fragte Juda sanft. Er kniete nieder, um sich davon zu überzeugen, dass seine Worte gehört und verstanden wurden. »Eine Umkehrung löst Veränderungen aus, aber sie kann niemals vollkommen auslöschen, was vorher war. Wenn das, was wir heute Nacht getan haben, möglich ist, wer sagt dann, dass frühere Umkehrungen nicht beim Zusammentreffen zwischen Ur-Städten und dem Aufstieg des Maya-Reichs auftraten, oder dass die Gründung Englands nicht zur Zeit des Gartens Eden stattfand?«
Er beugte sich vor und blickte den Historiker nachdenklich an. Wie viel sollte er erzählen? Was mochte es schaden, hatte er doch bereits so viel gesagt? Er fasste einen Entschluss.
»Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen«, begann Juda. »Das letzte Mal, als eine Umkehrung der Weltanschauung stattfand, wurde der Lauf einer Geschichte, wie wir sie hätten kennen sollen, verändert. Ein Pilger kam zum Berg Kailas, um kora zu laufen. Doch er stellte sich eine Frage, die tausend Jahre lang niemandem eingefallen war. Wenn der Berg tatsächlich die Heimat der Götter und ein heiliger Ort war, warum sollte es dann für einen bescheidenen, ehrfurchtsvollen Gläubigen Blasphemie sein, einen Fuß auf seine Hänge zu setzen? Er gelangte zu keiner befriedigenden Antwort, und niemand sonst konnte ihm eine liefern. So beschloss er den Berg zu besteigen, und traf dabei auf den damaligen Lehrer, einen Römer, wie ich annehme, mit Namen R.«
»Sie nehmen an?«, fragte Michael sarkastisch.
Juda zuckte mit den Schultern. »War Marx ein Marxist?«
»Bitte?«
»Vergessen Sie’s. Wie dem auch sei, R war ratlos – keiner der Jünger war gestorben. Doch ungeachtet der Tatsache, dass der Pilger R überhaupt sehen konnte, merkte R bald, dass dieser sich offenbar auf einem Pfad befand, der ihn dazu berechtigte, Meru zu betreten.«
Michaels Augen leuchteten auf, als ein weiteres Puzzleteil an seinen Platz fiel. »Der andere Zufallstreffer – Sie hatten einen weiteren Fall erwähnt, dass ein Lehrer in Meru ankam, bevor einer gebraucht wurde.«
»Sehr gut. Dieser Pilger war jedoch einzigartig, weil er zudem noch ein Erlkönig war. Die Ankoriten hatten gelegentlich mit den Erlkönigen aller Zeitalter verkehrt. Allerdings war noch nie einer als Eingeweihter in Meru eingetroffen.«
»Was ist
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