Die Fährte der Toten
Augen.
Während ihre Gedanken noch in ihrem Kopf hin- und her schwirren wie lästige Insekten, erklingt in ihrem Kopf wieder ein lockendes Flüstern, das sie zu rufen scheint. Sie versucht noch, ihm zu widerstehen, doch es ist zwecklos, und sie gleitet übergangslos in einen tiefen traumlosen Schlaf hinein.
Teufel / 10
Als Lee erwacht, ist sie für einen kurzen Moment desorientiert. Du musst im Sitzen eingeschlafen sein, denkt sie. Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr. Stehengeblieben. Dann fällt ihr wieder ein, wo sie ist. Sie streckt sich, um ihre verspannten Glieder wieder zu lockern, was jedoch gar nicht notwendig zu sein scheint, und beginnt ihr Gefängnis ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. Was sie sieht, ist ernüchternd. Außer den Regalen mit den menschlichen Gebeinen und der massiven stählernen Tür ist der quadratische Raum leer. Schlecht verputzte Wände, der Boden aus grauem Beton. Das wars, denkt sie. Kein Bett, kein Stuhl, kein Tisch. Keine Toilette. Nicht mal ein Eimer. Nichts zu essen. Nichts zu trinken. Soll sie hier unter verhungern und verdursten?
Sie geht mit schnellen Schritten zur Tür und beginnt dagegen zu bollern. Die Schläge hallen hohl durch das Kellerloch, doch sie kann nicht einmal ermessen, ob sie jemand auf der anderen Seite überhaupt hören könnte, selbst wenn er direkt auf der anderen Seite stände.
Fluchend reibt sie sich die Fäuste und lässt sich gegen die Tür sacken. Dieser Verrückte hat sie hier lebendig eingemauert. Und außer ihm weiß wahrscheinlich niemand, dass sie hier ist. Sie spürt, wie die Panik fröhlich die Fühler nach ihr ausstreckt, und sie kämpft sie mühsam nieder. Du musst die Nerven behalten, denkt sie. Sonst bist du sofort erledigt. Er hat etwas mit dir vor. Er wird dich nicht einfach so verrecken lassen.
Ihr Blick fällt wieder auf den Toten, der immer noch zusammen gekrümmt in der Ecke liegt. Lee macht ein paar Schritte auf den Kadaver zu, hält sich die Hand vor den Mund und betrachtet den Leichnam. Ein asiatisch aussehender Mann unbestimmten Alters. Hat sie ihn nicht schon einmal gesehen? Sie kann sich nicht erinnern.
So oder so, er ist tot. Jemand - etwas - hat ihm die Kehle herausgerissen. Als wäre ein Raubtier über ihn hergefallen. In den toten Augen spiegeln sich noch immer Schmerz und Überraschung. Das soll sie getan haben? Unmöglich. Wie sollte das gehen?
Lee wischt sich die Hände an ihrem zerrissenen Shirt ab und will sich gerade wieder erheben, als sie auf einmal den kaum wahrnehmbaren Duft von Blut wahrnimmt. Sofort spürt sie ein seltsames Verlangen in sich aufsteigen. Sie leckt sich über die Lippen und will sich wieder der Leiche zuwenden – doch wie zum Hohn weht sie nun ein süßlicher Verwesungsgestank an.
Angeekelt zieht sie sich in eine Ecke ihres Gefängnisses zurück, lehnt sich an die Wand und rutscht langsam hinunter in die Hocke. Die Totenschädel aus den Regalen grinsen sie hämisch an.
Wieso bin ich eigentlich nicht in einem Krankenhaus oder wenigstens bei einem Arzt, denkt sie. Ich bin angeschossen worden. Ich bin schwer verletzt, ich habe eine Ladung Schrot abbekommen, ich...habe keine Schmerzen.
Sie sieht an sich herunter. Ihr Shirt ist blutgetränkt, doch sie kann keine Wunde entdecken. Kein zerfetztes Fleisch. Nur glatte, unverletzte Haut. Sie schüttelt den Kopf, und langsam wandert ihre Rechte zu ihrer Schulter, doch sie weiß bereits, dass sie nichts finden wird. Kein Einschussloch. Keine Narbe. Nichts.
Du regenerierst, flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Und wenn du einmal darauf achtest – du atmest nicht besonders regelmäßig. Um genau zu sein - du atmest gar nicht. Weil du tot bist. Und gleichzeitig lebendiger als je zuvor. Denn deine Verwandlung ist nun abgeschlossen. Du bist kein Mensch mehr. Sondern viel mehr als das. Du hast deine wahre Gestalt angenommen. Die Form, die dir von Geburt an vorherbestimmt war. Widersetze dich nicht. Umarme deine wahre Natur. Du und ich, wir sind eins.
Lee versucht, die erneut aufflammende Panik zu unterdrücken, doch es fällt ihr immer schwerer. Das kann alles nicht sein. Sie muss langsam den Verstand verlieren. Jetzt hört sie schon Stimmen und führt Selbstgespräche. Aber tief in ihrem Innern weiß sie, dass das nicht wahr ist. Etwas hat sich in ihr eingenistet. Derzeit hat es sich in seine Höhle zurückgezogen wie eine Moräne. Doch es wird zurückkehren.
Das ist doch alles nur ein
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