Die Fährte der Toten
musst weg von hier, denkt sie, aber wohin? Sie kennt diesen furchterregenden kalten Ort doch nicht, auch wenn er ihr jetzt seltsam bekannt vorkommt. Hinter sich glaubt sie ein Geräusch zu hören, wie das Tappen von Krallen auf Stein, und sie rennt durch die Reihen der Bänke auf den Altar zu...
...als auf einmal eine Frau in einem weißen Gewand erscheint, die sich langsam in Richtung einer Seitentür bewegt. Die Gestalt winkt ihr zu und ruft ihren Namen, und Lee ist sich sicher, dass es ihre Mutter ist. Lee will zu ihr, aber egal wie schnell sie läuft, sie kommt nicht vom Fleck. Die Frau winkt wieder, und Lee kämpft wie von Sinnen, sie weiß, wenn sie durch die Tür kommt, ist sie in Sicherheit, dorthin kann ihr das Monster, das hinter ihr her ist, nicht mehr folgen.
Endlich kommt sie vom Fleck, doch dann stolpert sie über eine der Stufen, die zum Altar führen. Sie schlägt lang hin, und die Frau verschwindet durch die Tür, die gleich hinter ihr zufallen wird. Lee rappelt sich wieder auf, sie kann den fauligen Atem des Monstrums schon in ihrem Nacken spüren, als sie endlich die Tür erreicht und hindurch stolpert...
...und sich in ihrem Kinderzimmer in ihrem alten Bett wiederfindet. Es ist Tag, die Sonne scheint durch das blinde Fenster herein, aber die Strahlen lassen sie frösteln, und sie möchte sich am liebsten unter ihrer Decke verkriechen. Doch sie ist wie gelähmt, denn egal wohin sie blickt, alles ist voll mit riesigen Skorpionen. Sie betrachten Lee aus ihren seelenlosen Facettenaugen und beginnen, einen betörenden Singsang anzustimmen.
Lee will sich die Ohren zuhalten, aber dann würde sie die Decke bewegen und die Skorpione würden sich auf sie stürzen. Sie weiß, dass sie nur auf ihre Chance warten, sie haben immer auf sie gewartet, sie wollen sie aufnehmen in ihre Reihen. Lee starrt verzweifelt zur Decke und dort hängt der Vater aller Skorpione und starrt zurück. Lee beginnt zu schreien, und er zerbirst in tausende von kleinen Spinnentieren und die Flut ergießt sich über Lees Gesicht und...
... für einen fürchterlich langen Moment hat sie das Gefühl zu ertrinken, als würde ihr Kopf unter Wasser gedrückt. Sie presst die Lippen zusammen, um das Wasser davon abzuhalten in ihre Lungen zu strömen, doch es ist gar kein Wasser um sie herum. Sondern eine Flüssigkeit mit einem metallischen Geschmack. Fast kommt es ihr vor, als wenn sie in einem Meer von Blut schwimmen würde, und schließlich erlahmt ihr Widerstand. Sie öffnet die Mund, und sofort strömen die Fluten über ihre Lippen in ihre Kehle und in ihre Lungen.
***
Zuerst ist es wieder nur dieses so fremdartige und gleichzeitig vertraute Flüstern, das in ihrem Kopf widerhallt. Dann frisst sich das Licht einer von der kahlen Decke herabbaumelnden nackten Glühbirne durch ihre Augenlider, und sie ist wach. Als sich ihre Augen an die gleißende Helligkeit gewöhnt haben, erblickt sie als erstes ein Paar abgetretener Motorradstiefel.
Alles ist gut, denkt sie. Es war alles nur ein fürchterlicher Alptraum. Pete und die anderen sind da und haben sie rausgeholt. Langsam richtet sie sich auf - und sieht, dass es nicht Pete ist, der vor ihr steht. Auch nicht Jerry oder Elton. Sondern ein Mann, dessen Gesicht aussieht wie eine verschwommene Fratze. Fast kommt es ihr so vor, als trüge er eine Art Dämonenmaske. Sie muss immer noch gefangen sein in diesem fürchterlichen Albtraum, es kann gar nicht anders sein.
'Hallo', sagt die Fratze.
Das Wort scheint von den Wänden widerzuhallen. Sie muss in einem Kellerraum sein, es sieht aus wie in einer schmuddeligen Rumpelkammer. Ein Karton, der mit irgendwelchem Plunder gefüllt ist. In der Ecke ein lädiertes Metallregal, auf dem ein paar verstaubte Sachen herumliegen, die wie Schädelknochen aussehen.
‘Du bist erwacht‘, sagt die Fratze. ‚Du hast geschlafen. Lange und doch nur für den Bruchteil einer Sekunde, wenn man das als Maßstab nehmen will, was die Menschen Zeit nennen. Ich hoffe, du hattest eine angenehme Zeit, wo immer du auch warst. Ich würde dir gerne noch ein bisschen Gesellschaft leisten, doch das geht leider nicht. Du wirst etwas...unpässlich...sein. Und da will ich nicht stören, Kleines. Das wäre unhöflich. Und obendrein nicht einmal ganz ungefährlich.'
Die Fratze kichert ein wenig in sich hinein.
'Also, bis später. Man sieht sich.'
Lee will etwas sagen, als sie ohne jede Vorwarnung ein brutaler Schmerz
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