Die Fährte der Toten
nach Beute. Nach Blut, Reichtum, Macht. Sie unterwies ihn, und er war ein gelehriger Schüler. Schon bald fand er heraus, dass Blut, das mit dem Aroma von Furcht und Hass durchflutet war, ihm die größte Befriedigung brachte. Sie hatte das zur Kenntnis genommen, ihm aber nie gesagt, ob ihr das gefiele oder nicht.
Eine Zeitlang kamen sie gut miteinander aus, doch mit den Jahren fühlte er, dass er nie so werden würde wie sie. Und das er es auch nicht wollte. So trennten sich ihre Wege. Sie kehrte wieder in die alte Welt zurück, die ihr so am Herzen lag und von der sie sich nie wirklich lösen konnte, während er zurückblieb. Kurz bevor sie ging, gab sie ihm noch etwas mit auf den Weg. Eine Lektion, die er nie vergessen hatte und deren Klang auf ewig in den Untiefen seines Herzens widerhallen würde.
'Weißt du mein Lieber, wir sind wie Wölfe, die in eine Herde von Schafen einfallen. Wir nehmen uns eins oder auch zwei. Aber am Schluss, da bleiben hunderte tot liegen. Weil sie sich gegenseitig zertrampelt haben vor lauter Panik. Und mit ein bisschen Glück und Geschick mogeln wir die, die wir uns genommen haben, unter die anderen. Und niemand wird je bemerken, dass es uns gibt. Dass wir unsere Beute gerissen haben.
Und Menschen sind genau das - Beute. Für mich, für dich, für alle, die so sind wie wir. Wie du weißt, gibt es viele unserer Art. A ber die meisten versuchen unauffällig zu bleiben. Man kann das vernünftig nennen.'
Sie hatte gelächelt.
'Was mich angeht – ich finde es langweilig. Wo es doch so viel interessanter ist, mit der Beute zu spielen. Sich unter sie zu mischen. Sich zu nehmen, was man will. Und keine Rücksicht darauf zu nehmen, welche Konsequenzen es für die Herde hat. Denn die ist groß und stirbt nicht aus, egal was wir tun. Und...' sie hatte ihm direkt in die Augen geschaut und wieder dieses kalte Lächeln aufgesetzt '...ein nicht geringer Teil der Herde ist nichts weiter als Ungeziefer. Und ohne uns nimmt das Ungeziefer überhand. Vergiss das nie.'
Mit diesen Worten hatte sie ihn verlassen, und er hatte sie nie vergessen. Ihr Rat war gut gewesen. Er hat ihn befolgt, all die Jahre und Jahrzehnte, die sich dann zu Jahrhunderten auftürmten. Es gab und gibt so viel Ungeziefer dort draußen. So viel menschlichen Abfall, den es auszumerzen gilt. So viel Beute. Frank grinst in sich hinein. Zeit, dass seine Schülerin diese Lektion nun selber lernt.
***
Obwohl die Tür sich fast lautlos öffnet, bemerkt Lee es sofort. Aber sie beschließt, sich nichts anmerken zu lassen und sitzt weiter scheinbar teilnahmslos an die Wand gelehnt.
'Na, wie geht es uns denn heute Nacht. Hast du schon wieder Hunger?'
'Ich...weiß nicht...'
'So, du weißt es nicht. Na dann...'
Ein dünnes Lächeln erscheint auf Franks Lippen, als er sich mit einem Fingernagel über den Unterarm streicht – und sich einen Schnitt zufügt, aus dem ein wenig Blut quillt. Sofort spürt Lee wieder dieses diffuse Verlangen. Sie macht einen Schritt auf Frank zu, wie magisch angezogen von dem sich ausbreitenden Duft – und wird völlig überrascht, als Frank sie mit einer blitzschnellen Bewegung unter dem Kinn packt. Lee versucht sich los zu reißen, doch es ist zwecklos.
'Dachte ichs mir doch' grummelt Frank. 'Hat nicht lange vorgehalten. Hast aber auch ne Menge abgekriegt, von daher...'
'Wovon – redest du? Du – brichst – mir den Kiefer', quetscht Lee heraus.
'Nein. Das werde ich nicht.'
Er streckt seine Rechte nach Lees Gesicht aus, und entsetzt nimmt Lee wahr, dass sich sein Zeigefinger in eine Kralle verwandelt hat. Sie will seine Hand beiseite schlagen, doch Frank fängt den Angriff mühelos ab. Auf seinem Gesicht erscheint ein kaltes, unmenschliches Lächeln, frei von jeder Emotion. Lee spürt, wie die Kralle knapp unter ihrem Auge entlang streicht, und sie versucht erfolglos mit aller Macht Franks Griff zu lockern.
Für einen Moment spürt sie nur den Druck – dann explodiert eine Woge des Schmerzes in ihrem Kopf. Sie schreit laut auf, und Frank lässt sie los. Lee taumelt gegen die Wand und tastet nach der Stelle unter ihrem Auge, doch als sie mit einem Finger auch nur die Nähe kommt, zuckt sie sofort wieder zurück. Die Wunde pulsiert wie verrückt, und sie spürt, wie ein dünner Blutfaden ihre Wange herunter rinnt.
'Lust und Schmerz – sie liegen manchmal so nah beieinander...' sagt Frank. 'Aber ich komme vom Thema ab.
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