Die Falsche Tote
trat zurück.
»Mir sind die Strähnen aufgefallen … seht euch mal diese Gleichmäßigkeit an, ganz feine und viele sind es. Auch der Haarschnitt hat diese Präzision.«
»Du kannst uns verraten, bei welchem Frisör sie war?«, fragte Kjell ungläubig.
Sofi schüttelte den Kopf. »Aber man kann viele ausschließen. Ein normaler Friseur könnte sich gar nicht leisten, so zu arbeiten. Die Kunden würden das nicht bezahlen wollen.«
Kjell steckte die Hände in die Hosentaschen. Das tat er immer, wenn er mit der näheren Zukunft unzufrieden war. Er war eher auf der Suche nach einem großen roten Ausrufezeichen, an dem er sich festklammern konnte. Alle Frisöre mit einem Porträt des Mädchens abzuklappern, war ihm zu vage. Er sah auf die Uhr, in seinem Kopf tickte ein lauter Wecker. Vierundzwanzig Stunden waren um.
17
An Schultagen kam Linda täglich an diesem Haus vorbei. Oft hielt sie, um im Kiosk etwas zu kaufen. Amelie wohnte am Kungsbrostrand direkt am Kanal, der Kungsholmen von der Innenstadt trennte. An der Vorderseite erhob sich gleich das Felsmassiv mit der langen Treppe. Amelies Wohnung ging jedoch nach hinten raus, und man blickte dorthin, wo die Stadt bei Tage am hässlichsten war. Doch jetzt in der Dämmerung boten die Gebäude des Bahnhofs und die breite Schneise mit den wegführenden Gleisen eine spannende Aussicht, weil Tausende von Lampen schön gelb leuchteten wie eine belgische Autobahn bei Nacht.
Dass ausgerechnet Amelie sie ins Herz schließen würde, hätte Linda nicht erwartet. Sie war sich außerdem noch gar nicht sicher, ob Amelie überhaupt eines hatte. Wenn ja, dann schlug es ganz langsam oder nur auf ausdrücklichen Befehl von Amelie. Am Mittag waren sie zu viert zum Riche gelaufen. Allein hätte sich Linda nie in ein solches Lokal getraut. Anscheinend gingen die anderen oft dorthin und waren hochwillkommen. Das Riche machte auf Kunst und Design und war froh, dass unter all den Stureplan-Hochstaplern auch mal echte Künstler waren. So hatte Amelie es ihr erklärt und Linda mit dem Hinweis auf Spezialpreise beruhigt, die sie dort bekamen. Lucie hatte während der Mittagspause nur gejammert und geraucht. Linda fragte sich, wie viele Schicksalsschläge und Depressionen gleichzeitig in einem Menschenleben stattfinden konnten. Amelie hatte Linda mit den Augen signalisiert, dass sie Lucie auf keinen Fall zuhören durfte.
Um sechs Uhr war Amelie zu Linda getreten und hatte gesagt, dass sie jetzt aufhören solle, auch wenn die anderen noch arbeiteten. Linda war dankbar gewesen, weil man am ersten Tag ja nicht wusste, wann man gehen darf. Fornell war irgendwann einfach verschwunden. Linda hatte Amelie gefragt, wo ihre Bilder denn seien, denn im Gegensatz zu den anderen gab es an Amelies Platz nur das Bild, an dem sie gerade arbeitete. Da verwunderte sie Linda mit einer Einladung nach Hause.
Amelie stellte Spaghetti in das sprudelnde Wasser. »Komm. Du kannst herumgehen und die Bilder ansehen.«
Linda folgte ihr ins Zimmer. Amelie in Strümpfen zu sehen, machte sie menschlicher. Mit ihren schwarzen Stiefeln war auch viel von ihrer Härte im Flur zurückgeblieben. In der Wohnung dominierte helles Holz. Zuhause war Amelie also nicht so schwarz-weiß-rot wie draußen in der Welt. Die Auffälligkeit, mit der sie dort unter allen anderen hervorstach, ließ sich am Abend abschminken und ausziehen, das wurde Linda nun klar.
»Alle Männer sehen dich auf der Straße an«, sagte Linda, als sie ein Selbstporträt von Amelie mit ausgestreckten Armen von sich hielt. »Sogar von der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung sehen sie herüber. Auch die Frauen.«
Das interessierte Amelie jetzt ebenso wenig wie auf der Straße. Jedenfalls tat sie so. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als hätte ihr jemand eine Mülltüte in die Hand gedrückt.
Es gab noch ein anderes Zimmer mit einem ungemachten Bett darin. Als Linda das drei Meter breite, aber nur einen halben Meter hohe Bild an der Wand sah, begriff sie, dass Amelie es ihr als Antwort auf ihre Bemerkung zeigen wollte. Auch hierauf war Amelie zu sehen. Sie lag in einem Sommerkleid auf einer Wiese, ungeschminkt und mit naturbraunem Haar, und hundert Jahre jünger. Zwei weiße Schmetterlinge verfolgten einander um Amelies Kopf herum. Linda grinste.
Im anderen Zimmer klingelte ein Telefon. Amelie lief hinüber. Linda betrachtete noch ein wenig das Bild und sah sich dann im Zimmer um. Der Kleiderschrank stand offen. Amelies Kleidung war ganz aus einem Guss.
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