Die Falsche Tote
Besucherstuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Auch Rosenfeldt setzte sich. Er nahm das aufgeschlagene Ringbuch, das vor ihm lag, und drehte es zu Henning.
»Das hier ist mein Kalender.«
Die Doppelseite war in fünf Spalten für die Arbeitstage der kommenden Woche gegliedert. Sie waren alle leer, nur der Montag war belegt von einem Eintrag, der nur aus einem Wort bestand: Jossan.
»Ist das ihre Handschrift?«
Rosenfeldt nickte.
»Sie war kurz im Büro«, sagte Ludmilla. »Nur da kann sie es eingetragen haben.«
Rosenfeldt deutete auf den Kalender. »Ich wollte am Sonntag zurückkommen. Für die erste Woche waren keine Termine vorgesehen.«
»Ist es denn üblich, dass sie Termine mit dir vereinbart?«
»Überhaupt nicht. Sie muss nur anrufen, wenn sie mich sehen will, oder kann einfach vorbeikommen. Das ist der offizielle Kanzleikalender. Sie würde ihn nie anrühren. Wir befürchten, dass sie erpresst worden sein könnte und Daten entwendet hat.«
»Kennt sie sich denn dort unten aus?«
»Leider ja«, antwortete Rosenfeldt. »Sie hat ein Praktikum gemacht und hilft gelegentlich in der Registratur aus, wenn wir jemanden brauchen. Es gibt noch zwei Angestellte mit studierenden Kindern, und wir bevorzugen aus Gründen der Diskretion immer Aushilfen, die wir kennen.«
»Heißt das, dass wir ihre Fingerabdrücke auf jeden Fall dort unten finden werden?«
Rosenfeldt nickte.
Henning blickte auf den Kalender und blätterte zur folgenden Woche weiter. Dort gab es schon einige Termine. »Entwendet? Kann sie nicht auch etwas kopiert haben?«
»Der Kopierer steht oben«, sagte Ludmilla. »Das hätten wir bemerkt.«
Henning spürte, wie sich ein Druck von allen Seiten auf seinen Brustkorb legte. Er hatte sich verschätzt. »Ich glaube es nicht.«
»Dass sie etwas entwendet hat?«
Henning nickte und tippte auf Josefins Eintrag im Kalender. »Ihr solltet lieber prüfen, ob sie etwas hinzugefügt hat.«
21
Linda nahm immer zwei Stufen auf einmal. Das half jedoch nichts. Frau Jansson hatte die Tür ihrer Wohnung schon aufgerissen. Sie überfiel ihre Nachbarn gern im Treppenhaus mit einem Schwätzchen.
»Ist denn schon wieder Schule, lieber Himmel?«, rief sie, als hätte das auch nur den geringsten Einfluss auf ihr Dasein als pensionierte Witwe, nicht mal der Weihnachtstermin war ja für sie von Bedeutung. Die zwei Stunden alte Dauerwelle klebte an ihrem Kopf wie das Profil an einem Winterreifen.
»Heute ist doch Samstag, Frau Jansson!«
Wer die Treppen nahm, musste im Ersten an der Einsamkeit von Frau Jansson vorbei. Sie lauerte gerne hinter der Tür. Linda hoffte, dass sie dort bleiben und das Schauspiel draußen verpassen würde. Papa würde sonst alles von ihr erfahren.
Manchmal rannte Frau Jansson aus heiterem Himmel aus dem Haus und blieb erst am Ufer stehen, wo sie wie eine Wikingerehefrau die flache Hand vor die Stirn hielt, um weiter spähen zu können. Linda hatte oft überlegt, was das für einen Sinn haben könnte, denn Frau Janssons Wohnung lag ja im Ersten, vom Küchenfenster aus hatte sie genau dieselbe Aussicht. Sie blickte immer hinüber nach Essingen. Das lag fast einen Kilometer entfernt, da war es völlig egal, ob sie noch zehn Meter draufgab. Das war, wie mit einem Fernglas in die Sterne zu blicken. Linda konnte ein Lied davon singen. Zum zehnten Geburtstag hatte sie sich ein Teleskop gewünscht. Damit war sie sofort aufs Dach geklettert und hatte zum Himmel geblickt. Die Sterne waren winzige Punkte geblieben. Das Leben ist eine Reihe von Enttäuschungen, hatte ihr angetrunkener Opa gelallt, obwohl er selbst nie eine eingesteckt hatte.
Im Vierten lauerte oft noch eine weitere Gefahr. Das war Frau Linusson. Sie hatte sich vor zwei Jahren ein mehrbändiges Lexikon aufschwatzen lassen, das ihr seitdem auf all ihre Fragen an das Leben antwortete. Auch über Frau Jansson wusste Frau Linusson Bescheid. Sie hatte das Lexikon wie immer bei A aufgeschlagen und nach etwas gesucht, was Frau Jansson möglichst ähnlich war. Sobald sie etwas fand, schlug sie das Lexikon zu. Was Frau Jansson betraf, stand sie mit dem brasilianischen Macumba-Zauber in Verbindung. Linda hatte Frau Linusson angespornt, noch ein wenig über den Buchstaben M hinauszublättern, vielleicht könnten die Einträge »Neurose«, Psychose« oder vielleicht sogar »Wahnsinn« auch noch in die engere Wahl genommen werden, wenn es schon keinen Eintrag für Einsamkeit gab, was ein schwedisches Lexikon zur Farce machte. Frau
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