Die Falsche Tote
und lief mit Vorlage durch den Raum, jedoch nicht zum Fenster. Er setzte sie auf der Küchenanrichte ab, die neben dem Fenster lag und nur ein wenig niedriger war als das Geländer. Sofi knallte mit dem Hinterkopf gegen den Hängeschrank.
»Du hättest dich wehren können«, keuchte Kjell und brachte seine Haare in Ordnung. »Deine Arme waren frei.«
»Ich hab gar nicht gekonnt«, staunte sie. »Obwohl ich es wusste, war gar keine Zeit dazu.«
Sofi sprang von der Anrichte und nahm die Skizze vom Tisch. »Du hast bestimmt Spuren hinterlassen«, sagte sie und deutete auf den Holzboden. »Auf der Skizze sind aber keine verzeichnet.«
Kjell warf einen Blick in die Skizze. »Allerdings gibt es so gut wie keine Spuren vor dem Fenster.«
»Vielleicht war er kräftiger als du.«
Kjell schüttelte nach kurzem Überlegen den Kopf. »Ich bin absichtlich nach vorne gebeugt gerannt. Nur wenn sie so am Fenster ankamen, lässt sich die Drehung erklären. Wäre er kräftiger gewesen, hätte er sie vielleicht ruhig getragen und über das Geländer heben können. Dann wäre sie anders gefallen. Ich habe dich mit Mühe auf die Anrichte setzen können.«
»Wir suchen also nach einem Mann, der so schwach ist wie du.«
Als am Nachmittag die Sonne zu sinken begann, kehrten alle Dinge im Zimmer zu ihrer alten Farbe zurück. Sofi hatte sich mit ihrer Tüte Samstagssüßigkeiten in Josefins Zimmer zurückgezogen und blätterte dort alle Unterlagen und Bücher durch. Kjell saß immer noch nebenan und studierte die Akte. An der Wand gegenüber dem Schreibtisch standen zwei Regale mit Büchern. Sofi nahm jedes Buch aus dem Regal und blätterte darin. Sie hatte bereits das erste Regal hinter sich und in den Büchern zwei Postkarten, ein Urlaubsfoto aus vergangenen Tagen und einen Brief in einem aufgeschlitzten Kuvert gefunden. Er stammte von der Wohnungsgesellschaft und enthielt nur die vier Monate alte Mitteilung, dass im Herbst die Abgabe für Strom, Wasser und Wärme um zweihundert Kronen erhöht werden müsse. Sie legte den Brief wieder ins Buch und stellte es ins Regal zurück. Sie hatte sich mehr versprochen von diesem Zimmer, nachdem sie den Zettel unter dem Kopfkissen gefunden hatten. Mit den Kartons auf dem Schreibtisch hatte sie begonnen. Darin sammelte Josefin Notizen, Rechnungen und alles, was man nirgendwo einordnen kann. Sofi nahm das zweite Regal in Angriff und fand wieder einen Brief. Die benutzte Josefin anscheinend gern als Lesezeichen. Doch dieser hier war anders. Er stammte nicht von einer Behörde, das Kuvert war jedenfalls unbeschriftet. Sofi strich über die gelbliche Oberfläche. Teures, schweres Papier. Sie drehte das Buch hin und her und betrachtete den Einband. Da hatte sie gar nicht so genau aufgepasst. Bo Setterlind, der Dichter. Ich liege im Dunklen bei dir, lautete der Titel. Es war eine Sammlung seiner wichtigsten Gedichte. Sie musste Barbro fragen, ob es Zufall war, dass sie Bos Nachnamen trug. Sie blätterte das Taschenbuch durch und prüfte, ob es Anstreichungen darin gab oder einen Namen. Ein Papierstreifen fiel heraus und segelte zu Boden. Sofi bückte sich danach und hob ihn auf. Volltreffer, schoss es ihr durch den Kopf. Dieser Brief glich dem, den sie unter dem Kopfkissen gefunden hatten. Er steckte jedoch nicht in einem roten Miniaturkuvert.
Sofi lief hinüber zu Kjell.
»Es war in dem Buch hier. Ein zweiter Brief von Aisakos und dieses geschlossene Kuvert.«
Kjell trug keine Handschuhe. Ohne den Zettel zu berühren, begann er zu lesen. »Nicht allem spüre nach. Gut ist’s, dass viel verborgen bleibt. Aisakos.« Kjell sah auf. »Auf welcher Seite des Buches hat der denn gesteckt?«
»Weiß ich nicht. Ich hab zu schnell durchgeblättert. Dabei ist es rausgefallen.«
»Das hier ist jedenfalls ein ganz eindeutiges Zitat von Sophokles.«
»Ist es berühmt?«
»Wer klassische Literatur studiert hat, kennt es wohl. Ich müsste nachschlagen, um zu sagen, aus welcher Tragödie es stammt. Welcher der beiden Zettel wohl der ältere ist?«
Sofi konnte nur mit den Schultern zucken. »Vielleicht gibt uns das hier die Antwort.« Sie legte das verschlossene Kuvert auf den Tisch. Kjell nahm es vorsichtig an den Kanten. Es war sorgfältig zugeklebt. Sofi glitt auf den freien Stuhl und betrachtete ihren Chef.
»Soll ich es zu Per bringen?«
Kjell bewegte den Kopf. Er wollte die Frage abschütteln. »Hast du dein Teppichmesser dabei?«
Sofi griff nach ihrer Tasche und wühlte darin. Sie hatte immer ein
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