Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Familie ohne Namen

Die Familie ohne Namen

Titel: Die Familie ohne Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
abseits, in einer wenig erleuchteten Ecke, wo sie, wie ganz in sich zurückgezogen, kniete. Unter dem sie verhüllenden Schleier verhielt sie sich fast erschreckend still und regungslos. Man hätte sie für todt halten können, wenn sich nicht zuweilen ein schmerzlicher Seufzer ihrer Brust entrungen hätte. In ärmlichen, drückenden Verhältnissen schien diese seltsame Frau zwar nicht zu leben, und doch mußte sie allem Anscheine nach höchst unglücklich sein. Ein-oder zweimal hatten gute Seelen ihr beispringen, ihre Dienste anbieten, ihr Interesse erwecken und ihr einige Worte der Theilnahme zuflüstern wollen. Doch da hüllte sie sich nur tiefer in ihre Trauerkleidung und wich zurück, als ob sie selbst ein Gegenstand des Schreckens gewesen wäre.
    Die Einwohner von St. Charles kannten diese Fremde, man hätte sagen können, diese Einsiedlerin, sonst ganz und gar nicht. Vor zwölf Jahren war sie nach dem Flecken gekommen, um das für ihre Rechnung zu sehr niedrigem Preise erkaufte Haus zu beziehen, denn die Gemeinde, der dasselbe gehörte, hatte es schon seit längerer Zeit ausgeboten und fand doch Niemand, der es haben wollte.
    Eines Tages hörte man, daß die neue Besitzerin während der Nacht angekommen und in ihre Wohnung gezogen sei, ohne daß sie Jemand hätte eintreten sehen. Man wußte nicht, wer ihr beim Transport des dürftigen Mobiliars geholfen haben mochte; sie miethete auch keine Magd, um ihr im Haushalte beizustehen. Niemals konnte Jemand bis zu ihr eindringen. So lebte sie jetzt, und so hatte sie seit ihrer Ankunft in St. Charles in strenger, fast klösterlicher Abgeschiedenheit gelebt. Die Mauern des geschlossenen Hauses glichen auch wirklich denen eines Klosters, das noch kein Unbefugter jemals betreten hatte.
    Die Bewohner des Fleckens suchten auch gar nicht das Leben dieser Frau zu durchschauen oder die Geheimnisse ihrer Existenz zu entschleiern. Während der ersten Tage nach ihrer Uebersiedlung hierher steckte man wohl ein wenig die Köpfe zusammen und es entstanden manche Redereien über die Besitzerin des geschlossenen Hauses.
     

    Dieses Haus war dürftig und klein. (S. 144.)
     
    Man vermuthete das und jenes, bald aber beschäftigte man sich nicht weiter mit ihr. Soweit es ihre Mittel gestatteten, erwies sie sich mildthätig gegen die Armen des Landes, und schon das sicherte ihr die Achtung Aller.
    Ziemlich groß, doch etwas gebeugt, wohl mehr durch Kummer als durch das Alter, mochte die Fremde jetzt etwa fünfzig Jahre zählen. Unter dem Schleier, der sie zur Hälfte bedeckte, verbarg sich ein Gesicht, welches schön gewesen sein mußte, dafür zeugten noch die hohe Stirn und die schwarzen feurigen Augen. Ihr Scheitel freilich war ganz weiß; ihr Blick schien verschleiert von den unstillbaren Thränen, die denselben so lange gebadet hatten. Jetzt war der Ausdruck dieser sonst sanften und lächelnden Physiognomie der einer düsteren Entschlossenheit, eines unbeugsamen Willens.
    Hätte die öffentliche Neugier sich etwas mehr befleißigt, das geschlossene Haus zu überwachen, so wäre der Beweis zu erbringen gewesen, daß sie sich doch nicht unbedingt jedem Gaste verschloß.
    Drei-oder viermal des Jahres, allemal in der Nacht, öffnete sich die Pforte vor einem, manchmal vor zwei Fremden, welche freilich keine Vorsicht außer Acht ließen, ungesehen hierher und auch wieder fort zu kommen. Niemand hätte sagen können, ob sie nur wenige Stunden oder mehrere Tage in diesem Hause verweilten. Wenn sie es wieder verließen, so geschah das jedenfalls vor dem Tagesgrauen.
    Niemand konnte also bezweifeln, daß diese seltsame Frau noch irgend welche Beziehungen mit der Außenwelt unterhielt. Ein solcher Fall trat in der Nacht des 30. September 1837 gegen elf Uhr ein. Die große, die ganze Grafschaft St. Hyazinthe von Ost nach West durchziehende Landstraße führt nach St. Charles und über dieses hinaus. Sie war zu jener Stunde menschenleer. Tiefe Dunkelheit umhüllte den eingeschlummerten Flecken. Kein Bewohner desselben konnte die beiden Männer sehen, welche auf dieser Straße herankamen, bis zu dem geschlossenen Hause schlichen, die Gitterthür des kleinen Vorhofes öffneten und dann in einer Weise an die Thür klopften, daß sich schon daraus ein verabredetes Erkennungszeichen verrieth.
    Die Thür öffnete sich und verschloß sich sofort wieder. Die beiden nächtlichen Besucher traten in das erste Zimmer zur Rechten, dessen schwache, von einer Art Nachtlicht erzeugte Beleuchtung außerhalb

Weitere Kostenlose Bücher