Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Familie ohne Namen

Die Familie ohne Namen

Titel: Die Familie ohne Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
Frau Bridget, die ich so oft gesehen, die immer so gut und edelmüthig war, obwohl sie nur unter bescheidenen Umständen lebte; sie, die im ganzen Flecken überall so beliebt war!… Und welch’ warme Vaterlandsliebe trug sie im Herzen!… Was hat sie leiden müssen, das arme Weib! Was hat sie leiden müssen!«
    Wie vermöchte man zu schildern, was hierbei im Innern Johanns vorging! Hier, vor den Ueberresten des zerstörten Hauses, hier, wo sich der letzte Act jener Verrätherei abgespielt, wo die Genossen Simon Morgaz’ ausgeliefert worden waren, den Namen seiner Mutter preisen zu hören, in der Erinnerung alles Elend seines Lebens noch einmal durchzukosten – das erschien ihm fast mehr, als eine Menschennatur ertragen konnte. Johann bedurfte auch einer außergewöhnlichen Energie, um zu verhüten, daß sich kein Schmerzensschrei seiner Brust entrang.
    Der alte Mann fuhr fort:
    »So wie die Mutter, hab’ ich auch die beiden Söhne gekannt! Sie hielten treu zu ihr! Ach, die armen Leute!… Wo mögen sie in dieser Minute sein?… Alle hier liebten sie wegen ihres Charakters, ihrer Offenheit und ihres guten Herzens! Der Aeltere war schon sehr ernst und fleißig, der Jüngere mehr aufgeräumt, aber entschiedener und stets bereit, die Schwachen gegen die Stärkeren zu schützen…. Er hieß Johann. Sein Bruder wurde Joann genannt… richtig, genau wie der junge Geistliche, der eben jetzt predigen wird…
    – Der Abbé Joann?… rief Johann.
    – Sie kennen ihn?
    – Nein, guter Freund… nein!… Ich habe aber von seinen Predigten gehört…
    – Nun also, wenn Sie ihn nicht kennen, lieber Herr, so müssen Sie schon seine Bekanntschaft machen… Er ist durch alle Grafschaften des Westens gezogen, und überall sind die Leute zusammengeströmt, um ihn zu hören… Sie werden ja selbst sehen, welche Begeisterung er zu entzünden vermag!… Wenn Sie Ihren Aufbruch nur um eine Stunde verzögern können…
    – Ich folge Euch!« unterbrach ihn Johann.
    Der Greis und er begaben sich nach der Kirche, wo sie einige Mühe hatten Platz zu finden.
    Die ersten Gebete waren gesprochen und der Prediger bestieg eben die Kanzel.
    Der Abbé Joann war dreißig Jahre alt. Mit dem leidenschaftlichen Gesichte, dem durchdringenden Blicke und der warmen überzeugenden Stimme glich er ganz seinem Bruder und war auch ebenso ohne Bart wie dieser. In Beiden fanden sich die charakteristischen Züge ihrer Mutter wieder. Wenn man ihn hörte, wie wenn man ihn sah, begriff man wohl den Einfluß, den der Abbé Joann auf die von seinem Rufe herbeigelockten Massen ausübte. Ein Wortführer des katholischen Glaubens wie des Glaubens und der Hoffnung des Landes, war er ein Apostel im wahren Sinne des Wortes, ein Kind jener mächtig wirkenden Missionäre, welche sich opferwillig genug zeigen, das Blut für ihren Glauben zu verspritzen.
    Der Abbé Joann begann seine Predigt. Aus Allem, was er von Gottes Gerechtigkeit sprach, fühlte man heraus, was er zum Besten seines Vaterlandes sagen wollte. Seine Anspielungen auf die jetzige Lage Canadas waren darauf berechnet, die Zuhörer zu begeistern, deren Patriotismus nur die Gelegenheit erwartete, sich in Thaten umzusetzen. Seine Bewegung, sein Wort, seine Haltung erregten etwas wie ein dumpfes Beben in der bescheidenen Dorfkirche, als er die Hilfe des Himmels anrief gegen die Räuber der althergebrachten Freiheiten. Man hätte sagen mögen, seine zitternde Stimme verklinge gleich einer Trompete, sein ausgestreckter Arm schwinge von der Kanzel herab die Fahne der Unabhängigkeit.
    Im Schatten verborgen, hörte Johann ihm zu. Es erschien ihm, als wär’ er es selbst, der hier durch den Mund seines Bruders sprach. Es waren ja dieselben Gedanken, dieselben Hoffnungen und Wünsche, welche sich in diesen so nahe verwandten Wesen begegneten. Beide kämpften für ihre Heimat, jeder auf seine Weise, der Eine mit dem Worte, der Andere durch die That, Beide aber zum schwersten Opfer gleich bereit.
    Jener Zeit besaß der katholische Clerus in Canada sowohl in socialer wie in intellectueller Hinsicht einen großen Einfluß. Man betrachtete die Geistlichen als geheiligte Personen. Es war der Kampf der alten katholischen Glaubensgesetze, welche die französischen Elemente der Colonie von Anfang an eingepflanzt hatten, gegen die protestantischen Dogmen, denen die Engländer überall Eingang zu verschaffen suchten. Die Parochianen sammelten sich da um den Priester, den thatsächlichen Vorsteher der Kirchspiele, und der

Weitere Kostenlose Bücher