Die Familie Willy Brandt (German Edition)
sei dieser familiäre Flickenteppich nicht schon löchrig genug, nimmt sich der Mensch, den er bislang als den verlässlichsten kennenlernte, der ihm die meiste Orientierung bot, das Leben. Ludwig Frahm schießt sich 1936 eine Kugel in den Kopf, krank, verzweifelt, hoffnungslos. Sein Enkel, der schon nicht mehr seinen Namen trägt, erhält die Nachricht im Exil in Norwegen.
Verlassenheit ist also eine zentrale Erfahrung in Willy Brandts Kindheit und Jugend. Es fehlt an bergenden Mächten, es fehlt an familiärem Zuspruch, es fehlt an zustimmenden, bekräftigenden Instanzen. Es ist eine unbehauste Jugend, die Ich-Identität des jungen Mannes ist fragmentarisch, disparat, emotional zerfranst, sie hat sich nicht in Übereinstimmung oder im Widerspruch zu einem familiären Kollektiv entwickeln können. Charakterbildende Konflikte hat der Junge mit sich selbst ausgetragen, ohne Widerpart ist das ein schwieriges Geschäft. Der unbehauste, der verlassene Junge baut sich ein Nest auf den Schultern, eine Dachstube, in die er einzieht, die er ein Leben lang mit sich herumtragen wird. Im Haus des Großvaters bezieht der Junge eine Dachkammer, ein Privileg in seiner proletarischen Jugend. Hier hat er die Chance, die existentielle Verlassenheit zu nobilitieren, aus der Not eine Tugend, aus dem Leiden Gewinn, vielleicht Genuss zu schmieden. Lesen, schreiben, sich bilden, das Ich phantasievoll formen und umformen. Er verinnerlicht die Dachkammer, sie ist sein Ich-Raum, den er braucht, um sich im Gespräch mit sich selbst wieder zur Welt zu bringen und sich an den eigenen Haaren aus allen Tiefen und Sümpfen zu ziehen.
Wo familiärer Zuspruch fehlt, wo die Familie als Ordnungs- und Orientierungsrahmen ausfällt, übernehmen im besten Falle andere Instanzen diese stabilisierende Funktion. Willy Brandt wird in den Sozialismus hineingeboren, in die SPD, oder genauer noch, er wird der Obhut der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung übergeben, in der auch Mutter und Großvater ein geistiges Obdach und emotionale Heimat gefunden haben. Das geben sie an ihren Jungen weiter. Er kann kaum laufen, da stecken sie ihn, zur körperlichen Ertüchtigung, in die Kinder-Turngruppe des Arbeitersports. Dann findet er, zur musischen Bildung, Aufnahme im Arbeiter-Mandolinenklub, und bald übt er sich auch im Bühnen- und Puppenspiel. Das sind die Bildungsanstrengungen der Arbeiter, die die bürgerlichen Bildungswege nachempfinden, sich zu eigen machen. Die Mandoline, die Geige des kleinen Mannes, ist allemal günstiger als ihre bürgerliche Schwester und robuster, kleiner und somit auf den beliebten Wanderfahrten der Arbeiterjugend eine mobile Gefährtin, gut einsetzbar am abendlichen Lagerfeuer. Das Flackern des Lagerfeuers – die gesellige Runde ums brennende, krachende Holz – wirft ein Licht auf den Jungen, das bleibt als Erfahrung von Nestwärme und Geborgenheit im Kreis einer Gesinnungsfamilie, in der die Herkunftsfamilie aufgeht, die größer und machtvoller ist als diese, sich ständig erneuert, wächst und unbezweifelbare Väter anbietet.
Im Gegensatz zum verschwundenen Vater, der noch lebte, aber totgeschwiegen wurde, sprach man, »als ich klein war, öfter bei Bier und Schnaps (Kööm) als bei Kaffee und Kuchen« viel über »den Alten«, »Meister August« oder ganz familiär über »August«. Gemeint ist August Bebel, der »Kaiser der kleinen Leute«, der legendäre Arbeiterführer und Vorsitzende der SPD. Bebel starb am 13. August 1913, also vier Monate bevor Willy Brandt geboren wurde, dennoch rückt Brandt Tod und Geburt in seinem Buch »Links und frei« so eng und auffällig zusammen, dass man unweigerlich an die Idee der Reinkarnation denken muss, so als ob Geist und Seele des sterbenden Bebel im Knaben Herbert Frahm ein neues Zuhause gefunden hätten: »Bebel starb im Sommer jenes Jahres 1913, gegen dessen Ende ich auf die Welt gekommen bin. Nicht selten hatte ich die Empfindung, ihn noch selber zu treffen. Tatsächlich lernte ich einige Persönlichkeiten kennen, die – wie Rudolf Wissell, Paul Löbe oder Wilhelm Kaisen – in der Bebelschen Partei groß geworden waren. In bin in Lübeck nicht wenigen begegnet, die Bebel gehört und gesehen hatten, die Kraft seiner Worte rühmten oder die Sicherheit seines Urteils über das, was kommen werde. Manche sahen ihn wenigstens von fern, als er 1901 anlässlich des Reichsparteitags in Lübeck weilte.« Das schreibt Willy Brandt 1982 als Vorsitzender der SPD, als Besitzer von
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