Die Familie Willy Brandt (German Edition)
seiner Persönlichkeit die Familie natürlich in besonderer Weise gefesselt und bewegt hat. Vielmehr möchte ich die Geschichte von verschiedenen Seiten anpacken, möchte da und dort den Kindern stärker folgen als dem Vater, möchte hier länger bei der Ehefrau und Mutter verweilen oder scheinbar über Gebühr von einem Freund oder Feind der Familie berichten. Dahinter verbirgt sich auch die Überzeugung, dass zu einer Familie immer mehr Menschen gehören als nur Vater, Mutter, Kind. Der »Onkel« Herbert Wehner wird eine Rolle spielen oder auch die alte »Tante« SPD, aber auch ein Nachbar kann dazugehören, ein Modeschöpfer, ein Hausmädchen, ein Fotograf, ein falscher Freund. Wahlverwandtschaften aller Art sollen hier ihre berechtigte Rolle spielen.
Das Buch wird auch von Begegnungen berichten, von Erlebnissen während meiner Recherche. Ab und an sage ich »Ich«, aber nicht um von mir zu erzählen, sondern um das Zustandekommen des Berichts, seine Gebundenheit und seine Herkunft zu verdeutlichen. Eine Familiengeschichte verträgt keinen allwissenden, allmächtigen Erzähler. Wo sich etwas nicht fügt, fügt es sich nicht. Man wird hier vieles, aber sicherlich nicht »alles« erfahren. Wer »alles« wissen will, muss Sterne lesen.
Der Verlassene
Vom ersten Tag seines Lebens an ist Willy Brandt ein Verlassener. Er wird geboren in ein Familienpuzzle, in dem viele Teile fehlen und in dem das, was vorhanden ist, zusammenzulegen niemand versuchen wird, er am allerwenigsten. Familienfragmente wohin man blickt, abgerissene Fäden, kein familiäres Kontinuum in Raum und Zeit. Als Willy Brandt am 18. Dezember 1913 um 11 Uhr 45 in Lübecks Arbeitervorstadt St. Lorenz als Herbert Ernst Karl Frahm geboren wird, begrüßt ihn kein einträchtig lächelndes Doppelgesicht über der Wiege. Nur die Hebamme Luise Lotzow steht der neunzehnjährigen Martha Frahm in der kargen Dreizimmerwohnung zur Seite. In der Geburtsurkunde bleibt der Name des Vaters ungenannt, Herbert Frahm ist ein unehelich geborenes Kind. Damit ist dem Knaben bereits mit der Geburt der »Urmakel, diese Idioten-Erbsünde« (Heinrich Böll) der bürgerlichen Gesellschaft mit ins Lebensreisegepäck geschnürt, ein Stigma, das ihn lebenslänglich begleitet. »Über meinen Vater«, schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen, »sprachen weder Mutter noch Großvater, bei dem ich aufwuchs; dass ich nicht fragte, verstand sich von selbst. Und da er so offenkundig nichts von mir wissen wollte, hielt ich es auch später nicht für angezeigt, die väterliche Spur zu verfolgen.« Wo der Vater fehlt, fehlt schon mal die Hälfte einer Familie. Kein stolzes Paar nimmt sich des Jungen an, keine Schar von Tanten und Onkeln reicht den Jungen von Arm zu Arm. Und wo sind die Großeltern mütterlicherseits? Wilhelmine Frahm stirbt 1913 kurz vor der Geburt ihres Enkelkindes, und der Stiefgroßvater Ludwig Frahm zieht 1914 in den Krieg. Den Enkel lernt dieser vorerst nur auf Fotografien kennen, die ihm seine angenommene Tochter ins Feld schickt. Herbert im hellen Kleidchen wie ein Mädchen, Herbert im Marine-Dress als kleiner Matrose. Martha Frahm ist in den ersten Jahren als Mutter auf sich allein gestellt, ihr Sohn wird von Nachbarn mitversorgt, weil sie als Verkäuferin arbeiten muss, dreizehn, vierzehn Stunden am Tag.
Willy Brandt im Alter von 9 Monaten (1914).
[SPIEGEL TV]
An dem Sohn vollzieht sich, was bereits die Mutter erlebte, denn auch sie wurde unehelich geboren und hat ihren leiblichen Vater nie kennengelernt. Somit ist der Großvater des Jungen, zu dem er Papa sagen und der noch in seinem Abiturzeugnis als Vater firmieren wird, gar nicht sein leiblicher Großvater. Und als der Großvater, bei dem er überwiegend lebt und aufwächst, noch einmal heiratet, bekommt der Junge eine Stiefgroßmutter, die er nicht ausstehen kann und »Tante« nennt. Dass der geliebte Großvater gar nicht sein leiblicher Großvater ist, wird Willy Brandt 1934 von seinem Onkel Ernst mitgeteilt (der wiederum »nur« der Halbbruder seiner Mutter ist). Mit dieser Nachricht sei, so schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen, das »familiäre Chaos« um ihn herum vervollständigt worden. Dazu passt noch, dass auch er einen Halbbruder bekommt, denn seine Mutter heiratet 1927 den Maurerpolier Emil Kuhlmann, den Stiefvater nennt Willy »Onkel«. Von Emil stammt Martha Frahms zweiter Sohn Günter. Da dieser jedoch erst 1928 zur Welt kommt, wächst Willy Brandt wie ein Einzelkind auf. Und als
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