Die Familie Willy Brandt (German Edition)
seit längerer Zeit krank gewesen, Namen und Gesichter waren ihr entglitten, Zeiten und Bilder waren verloren, ihre Erinnerungen porös geworden. »Rut Brandt litt an Alzheimer« meldeten die Zeitungen. In ihrer Todesanzeige las man einen Sinnspruch des norwegischen Nationaldichters Bjørnstjerne Bjørnson: »Es gibt Sonne genug, es gibt Acker genug. Hätten wir nur der Liebe genug.« Auch Rut Brandt wurde auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof in Berlin beigesetzt. So liegen die Eheleute getrennt und doch beisammen. Das Grab des Bundeskanzlers befindet sich an einem breiten Hauptweg. Gleich auf der Rückseite liegt die Grabstätte des Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter, der für den jungen Heimkehrer Willy Brandt eine Vaterfigur wurde. Rut Brandts Grab hingegen ist nicht so leicht zu entdecken. »Fahren Sie mir mal nach, sonst finden Sie es nicht«, sagt der Friedhofsmitarbeiter, steigt in sein Auto und fährt los. Ich steige auf mein Rad. Es ist ein regnerischer und kalter Apriltag, kaum eine Menschenseele verliert sich auf dem riesigen Areal. Birken säumen still und winterstumm die Wege. Von dem breiten Weg zweigt ein schmaler Pfad ab. Hier hält das Friedhofsfahrzeug, auf dessen Ladefläche allerlei Erdwerkzeuge lagern. Der Mann steigt aus, winkt mir wortlos, ich folge. Er zeigt auf einen unscheinbaren Stein, steckt die Hände in die Taschen und überlegt. Dann sagt er: »Das ist das erste Mal, dass jemand nach ihrem Grab fragt. Er liegt da hinten, das haben Sie ja gesehen, und sie liegt hier. Was macht das Leben?« Er sieht mich dabei nicht an. »Bei ihm ist das anders!«
»Was ist anders?«, frage ich.
»An seinem Todestag kommen hier ganze Busladungen an. Das sind meistens Genossen, die zu seinem Grab pilgern. Da liegen dann die Blumen. Blumenberge. Meistens Nelken. Das war doch seine Blume oder?«
»Ja«, antworte ich, »Nelken und Rosen!«
Auf Willy Brandts Grabstein findet sich nur sein Name.
Die Welt kennt Willy Brandt, doch wer kennt seine Welt? Die SPD, seine Partei, war nur eine seiner Welten. Für viele Genossen aus entfernteren Provinzen ist der Besuch an dem Grab des legendären Parteivorsitzenden auch heute noch ein fester Programmbestandteil ihrer Berlinvisite. Aufstellung nehmen, Haltung zeigen, ein ernstes Gesicht hissen, Blumen ablegen, kurzes Innehalten, Foto. Es ist ein öffentliches Grab, eine kollektive Gedenkstätte. Rut Brandts Grab dagegen bleibt privat. Matthias hat es bepflanzt und einen Erinnerungsstein, den Peters Frau Antonia aus Norwegen mitgebracht hatte, auf das Grab gelegt. Der Stein diente in ihrem Ferienhäuschen, ihrer Hütte, die stets ein Knotenpunkt des familiären Lebens gewesen ist, als Türstopper.
Heimatstein.
Tote und Lebende werfen einander Fragen zu. Es ist selten still an Gräbern, es ist viel lauter, als man denkt. An Gräbern streiten Geschichten, an Gräbern geht die Zeit mit sich selbst ins Gericht. An Gräbern finden und verlieren sich Familien. Hier beginnen das »Ich«, das »Du«, das »Ihr« und das »Wir« ihre komplizierten Verhandlungen. An Gräbern schneiden sich alle ins eigene Fleisch.
Wie verschlug es die Norwegerin Rut Brandt, das »Arbeitermädchen aus Hamar«, nach Berlin? Warum fand Willy Brandt, der proletarische Junge aus Lübeck, seine letzte Ruhe auf dem Berliner Waldfriedhof? Woran ist diese Ehe zerbrochen, und warum fand Willy Brandt keine Worte mehr für seine Ex-Frau? Und was ist das für eine Familie im Schatten der Macht gewesen? Welche Wege sind die Kinder gegangen, welche Wege mussten sie gehen? Während der Vater durch seine geheimnisumwitterte Herkunft und unsichere Kindheit eine soziale Bindegewebsschwäche ausprägte und als belastendes Lebensgepäck mit sich trug, fand die Mutter trotz einer entbehrungsreichen Kindheit familiären Halt und Geborgenheit. Beide, Rut und Willy Brandt, waren ohne Vater aufgewachsen, doch erlebten sie zu Hause einen sehr unterschiedlichen Umgang damit und zogen daraus unterschiedliche Schlüsse. Während Ruts früh verstorbener Vater in den Erzählungen ihrer Mutter zu einer liebenswerten und tadellosen Märchengestalt wurde, blieb der Vater von Willy Brandt verschwunden, unsichtbar und wurde selbst dann noch totgeschwiegen, als ihn der Sohn durch forschendes Fragen zum Leben hätte erwecken können. Brandts Vater war ein »Flüchtling«, ein »Verräter« und »Treuloser«, Ruts Vater hingegen war ein »Unglücklicher«, ein »Unvergleichlicher«, den die Krankheit – er starb an
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