Die Farbe Der Leere
Gefühlstaubheit, die Missbrauch oft zur Folge hat, konnte so eine Haltung hervorrufen. Aber in diesem Fall, dachte sie, war da noch etwas anderes. Sie hatte das Gefühl, dass Jose genau wusste, wie der Kontrast zwischen den grausamen Fakten und seinem sachlichen Berichtston das Entsetzen des Zuhörers steigerte. Aber nein, sagte sie sich, der Junge konnte unmöglich so raffiniert sein.
Jonathan war genauso brillant gewesen, aber ihm fehlte gänzlich Joses Zynismus. An den fernen Rändern ihres Bewusstseins schwebte die Erinnerung an Jonathan wie ein Schatten. Sie stieß sie fort. Jose und seine Geschwister hatten ihr ganzes kurzes Leben lang unter Mangel an Aufmerksamkeit zu leiden gehabt. Ihre Eltern, ihre Verwandten, ihre Ärzte und ihre Lehrer – nicht ein einziger Mensch hatte bemerkt, dass diese Kinder wiederholt vergewaltigt wurden und, wenn man Jose ansah, unterernährt und vernachlässigt waren. Sie hatten ein Recht auf Katherines volle Aufmerksamkeit für die kurzen Momente, in denen ihr Leben in ihrer Hand lag.
Es war leicht für sie, sich in ihren Fällen zu verlieren. Barry hatte sich nie ausdrücklich darüber beklagt. Stattdessen hatte er seine Kommentare dazu als Besorgnis um ihr Wohlbefinden gestaltet. Sie sei zu talentiert für so einen undankbaren Tretmühlenjob. Wenn sie glaubte, gutherzige Seele, die sie war, dass sie zum Wohle der Menschheit ihre Karriere opfern müsste, sehr schön. Aber sie schuldete es sich selbst, das alles hinter sich zu lassen, wenn sie das Büro verließ. Sie sei emotional niemals anwesend, hatte er einmal gesagt. Was immer das bedeuten mag, hatte sie gedacht, aber nicht laut gesagt.
Die Geschichte, die Jose erzählte, hatte er bereits einer langen Reihe von Fremden vorgetragen. Angefangen mit dem Sozialarbeiter, der dem ersten Verdacht auf Missbrauch nachgegangen war, dann den ermittelnden Polizeibeamten. Er musste sie vor dem Missbrauchsermittler der Staatsanwaltschaft wiederholen, vor seiner Anwältin und dem Psychologen, den er heute Morgen getroffen hatte. Katherine war nur ein Glied mehr in dieser Kette, und dies war auf lange, lange Sicht bei weitem nicht das letzte Mal, dass er seine schmutzige kleine Geschichte würde ausbreiten müssen.
Zu der Zeit, als Annie mit noch intaktem Idealismus im Büro anfing, hatte Katherine längst aufgehört zu glauben, sie könnte das Leben dieser Kinder irgendwie verbessern. Sie erkannte in Annie ihr vergangenes Selbst – bevor sie hatte erkennen müssen, dass ihr Eingreifen oft noch mehr Leid verursachte als die Missstände, die sie beheben wollte. Wenn du den Job nur lange genug machst, endet eines Tages ein Kind tot oder verstümmelt, und du wirst nie sicher sein, dass es nicht deine Schuld war.
Es war Diane zu verdanken, dass Katherine die ersten Jahre durchgehalten hatte. Die beiden waren die einzig Übriggebliebenen aus jenen Tagen. Alle anderen hatten sich längst davongemacht und irgendetwas anderem zugewandt – egal was. Andere hatten ihre Plätze eingenommen und waren wieder gegangen, frei nach dem Rotationsprinzip. Ein Mensch kann das nur eine begrenzte Zeit aushalten, sagten sie. Katherine war jetzt fünfzehn Jahre da, Diane noch länger.
Einer der Grundsätze, die Diane ihr beigebracht hatte, bestand darin, nicht zu fragen, was nach dem Abschluss eines Falls aus den Beteiligten wurde. Das war nicht mehr ihr Problem, und sie hatte genug Probleme.
Sie war nicht hier, um die Kinder glücklich zu machen, sondern um das Richtige zu tun. Diane hatte einmal gesagt, es gab Anwälte, die glaubten, sie könnten mit dieser Arbeit die Wunden ihrer eigenen Kindheit schließen. »Sei keine von denen, das funktioniert nicht.«
»Denk nie, dass diese Kinder dich lieben werden«, hatte Diane gesagt. »Denk nie, dass sie dir dankbar sein werden.«
Katherine folgte Dianes Ratschlägen weitgehend. Sie nahm nicht an, dass diese Kinder überhaupt über sie nachdachten, von Dankbarkeit ganz zu schweigen. Ihr Dasein war erfüllt vom Auftreten ständig wechselnder Darsteller, die als Fallbetreuer, Heimvorsteher oder Pflegeeltern in ihr Leben traten, sie selbst spielte darin weniger als eine Nebenrolle.
Sie trichterte Jose nochmals ein: Alles, was er zu tun hatte, war, die Wahrheit zu sagen. Sie sagte ihm nicht, dass alles gut würde. Realistisch betrachtet war er angesichts seines Starts ins Leben schon erledigt. Das Einzige, was sie noch für ihn tun konnte, war, ihn wenigstens nicht zu belügen.
Katherine begleitete Jose
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