Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
langsam den Kopf – Fassungslosigkeit oder Resignation. »Wenn ich eine andere Wahl hätte. Wenn deine verrückte Behauptung je wahr gewesen wäre.«
Ich bring dich um, wenn du’s wem erzählst
, dachte ich.
Laurel hob ihre müden Augen und sah mich an. »Ich muss arbeiten«, sagte sie. »So tun als ob. Wir können uns heute Abend treffen.« Sie nannte eine Bar.
Das Gespräch war also beendet. Ihrer Meinung nach. Na, meinetwegen.
»Ich wollte dir nicht schaden, Mae.« Laurel schüttelte den Kopf in dem gleichen traurigen Rhythmus, mit dem das Messingpendel in der Uhr ihres Vorgängers schwang. »Ich hab nicht gewusst, was ich tat. Ich wollte dir nicht schaden.«
Kann das dein Ernst sein? dachte ich, wusste aber ehrlich nicht, was ich sagen sollte.
»Mae.« Laurel richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf mich, als ich aufstand. »Ich wusste, dass du kommen würdest.«
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In jener Nacht füllte sich der Canyon mit Schreien, so wie Regenfluten eine Schlucht füllen können – unsere eigenen Schreie und die der Opfer verschmolzen, vereinten sich, bis da nur noch dieser Klangteppich war. Dann und wann ein blitzartiges Bild: Stitch, die eine Frau zu Boden reißt, die irgendwie aus dem Haus geflohen war; wie sie sie im Garten mit der Zielstrebigkeit eines jagenden Tieres einholt, ein Messer in der Faust wie ein langer blutiger Zahn.
Doch all diese Dinge sah ich nur bruchstückhaft. Die Blende rotierte vor meinem Gesichtsfeld, ging auf, schloss sich, ging wieder auf. Irgendwo neben mir im Zimmer hörte ich Creamy in erschöpfter Leidenschaft keuchen, frustriert, weil ihr Opfer einfach nicht starb.
»Nimm mich«, hörte ich die Frau sagen, die vor mir an dem Seil hing. Sie hatte sich heftig gewehrt, lange Zeit, doch jetzt wollte sie aufgeben. Ihr Kopf neigte sich. Da waren wir schon lange im Haus. Es war erstaunlich, wie viel Blut aus einem Menschen herauslaufen konnte, aus wie vielen Wunden, und sie wehrte sich noch immer, schrie, lebte.
Sie hatte den Kopf gehoben, um etwas zu sagen, und einen Moment lang sah ich ihr in die Augen, bis ihr Kopf wieder nach unten fiel, und ich brachte mich erneut in Rage, um das Messer noch ein paarmal in sie hineinzurammen, mit meiner geprellten Hand und meinem schmerzenden Arm.
Er lässt mich nicht los, ihr sterbender Blick – wie sie am Ende Ate absolut akzeptierte, das Leiden, das durch mich auf sie überging.
Wieder streicht die dunkle Schwinge durch mein Gesichtsfeld, und als sie vorüber ist, sehe ich Laurel, in der Hocke sitzend, beide Hände bluttriefend, einen kindlich andächtigen Ausdruck im Gesicht, wie sie mit der Fingerspitze
Kraut und Rüben
an die Wand schreibt.
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Du kannst sie nicht haben, Mae, das hatte Laurel gesagt, aber ich wollte –
ijuih
, wie sehr ich dieses sterbliche Kind wollte, aber nicht als meine Geliebte, nicht als mein Fleisch.
Etwas Neues zu gebären, aus grau gefiederter Asche … aus dem bebenden Staub, den der Feuerblitz aus einer törichten sterblichen Mutter gemacht hatte.
Und es hätten Laurel und ich sein sollen, die das Neugeborene in seinem von Weinranken umkränzten Korb gemeinsam wiegten. Der Weinstock wuchs dort empor, wo das Blut auf den Sand fiel, und aus dem Weinstock wurde das Kind neu geboren.
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Fast den ganzen restlichen Tag wartete ich vor der Schule. Es gab da einen hübschen kleinen Park mit einer gemauerten Terrasse, grünen Bänken und einer Reihe von Ginkgo-Bäumen, deren zarte, silbrige Äste kahl waren. Manche von ihnen waren mit Lametta und roten Kugeln geschmückt.
Es war Weihnachten oder besser: Weihnachtszeit. Bei meiner Ankunft hatte ich das nicht registriert. Doch als ich mich nun zurückzog, zwang sich mir die Erkenntnis auf. Die Schulflure waren voller Elfen und Weihnachtsmännern aus Pappe. Und zuckrige Dekorationen füllten die Schaufenster der meisten Geschäfte. Ganze Gruppen von herausgeputzten Schwulen schlenderten in scharlachroter und jagdgrüner Aufmachung vorbei und plauderten angeregt. Frauen liefen mit bunt glänzenden Einkaufstüten herum, die aussahen wie umgedrehte Luftballonsträuße.
Um drei Uhr kamen die Schüler ausgelassen aus der Tür gestürmt. Offenbar hatten die Weihnachtsferien begonnen.
Ich wartete bewegungslos in der bitteren Kälte. Dann und wann munterte ich mich mit einem raschen flachen Schnitt mit dem Teppichmesser über meine Handfläche oder die Innenseite des Unterarms auf. Als Laurel schließlich herauskam, dämmerte es bereits. Sie blieb auf der weißen Treppe des
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