Die Farbe der See (German Edition)
Komm zurück!«
Wie von selber riss er den Mund auf und atmete gierig ein.
Die Luft schmeckte frisch nach Salz und Fischernetz und dem Regen der vergangenen Nacht. Ein Aroma, das ihm wunderbar vertraut vorkam, obwohl er im Moment nicht sagen konnte, woher.
Lina half ihm, sich im flachen Wasser aufzusetzen.
Das Messer seines Großvaters hielt er noch immer aufrecht in der Faust, und in unmittelbarer Nähe trieb eine Leiche mit der Strömung davon. Das Gesicht zeigte nach unten, aber Ole erkannte ihn an dem blonden Haar, das um seinen Kopf herumwaberte.
Lina nahm Oles Gesicht in ihre Hände und drehte es zu sich. Dann küsste sie seinen Mund. Kein Abschiedskuss diesmal, eher ein Willkommensgruß. Er lebte ja wieder!
*
Ole und Lina segelten in der Abenddämmerung.
Zuvor waren sie um die Insel herum in den kleinen Nothafen von Storö gefahren und hatten sich bei den Männern der Lotsenstation für kleines Geld mit Lebensmitteln, Trinkwasser und Treibstoff versorgt.
Natürlich hatten die beiden Lotsen das deutsche Schnellboot gesehen, ebenso wie sie später die beiden Explosionen der Torpedos gehört hatten. Aber ähnlich wie die Fischer dieser Küste waren sie nicht besonders gut auf den Krieg im Allgemeinen und die Deutschen im Besonderen zu sprechen. Also hatten sie keine Fragen gestellt.
Und hatten ihnen sogar noch neues Ölzeug und zwei Seekarten geschenkt.
Eine zeigte das Skagerrak bis zu einer Linie von Kristianssand nach Tyboren hinunter. Die andere die Nordsee, im Norden begrenzt auf einer Linie von Stavanger hinüber zu den Orkneys, und im Süden von Esbjerg hinüber nach Newcastle upon Tyne.
Der Ostwind hielt.
Ebenso wie ihre abenteuerliche Reparatur am Mast der Lotten.
Von der Insel Storö in den Väder-Schären bis nach Rattey Head, nahe Aberdeen an der Nordostspitze von Schottland gelegen, waren es ungefähr 450 Seemeilen offenes Wasser, wenn man von einem Stück in der dänischen Jammerbugt absah, das sie zumeist dicht unter Land zurücklegten.
Dank der gnädigen achterlichen Brise und der ruhigen See bewältigten sie die Strecke in vier Nächten und drei Tagen.
Mit dem Krieg kamen sie nur einmal in Kontakt.
Mitten in der Nordsee begegneten sie einem Konvoi aus Kriegs- und Handelsschiffen, deren Nationalität sie nicht erkennen konnten. Aber die Schiffe schienen es zu eilig zu haben, um von einem winzigen Segler unter schwedischer Flagge Notiz zu nehmen.
Mehrmals auf dieser Überfahrt – am Tag und in der Nacht, in der Kajüte oder oben im Cockpit – hatten sie sich geliebt. Manchmal waren sie es mit einer gewissen Planung angegangen, was im Wesentlichen bedeutete, dass sie vorher die Segel etwas fierten und die Pinne festzurrten. Aber noch öfter passierte es aus heiterem Himmel, so dass sie, wenn sie wieder zu sich kamen, mit killenden Segeln und ohne Fahrt in der Dünung schlingerten.
Ihre kostbare Fracht, die geheimen Pläne des Physikers Christian Hülsmeyer, eine ominöse neue Waffe betreffend, die vielleicht den Verlauf des Krieges ändern würde oder auch nicht, verwahrten sie nach wie vor in der wasserdichten Schatulle. Um sie gegen das Hin-und-her-Rutschen im Seegang zu sichern, hatten sie sie mit der alten Sorgleine unter dem Tisch im Salon an den Mastfuß gebändselt. Seltsamerweise hatte keiner von ihnen, nachdem sie die Pläne dort abgelegt hatten, allzu viele Gedanken daran verschwendet. Sie würden nach England gelangen und von dort in die Obhut des amerikanischen Millionärs und Industriellen Alfred Lee Loomis. Dieser würde mit seinem Ehrenwort als Gentleman dafür einstehen, dass Hülsmeyers schreckliche Erfindung nur dann zum Einsatz kommen würde, wenn die deutsche Seite die Waffe weiterentwickelte und tatsächlich zu nutzen gedachte. Dieses Ehrenwort hatte Loomis seinen drei Freunden auf einer Segelyacht in Kiel gegeben. Hülsmeyer, Sønstebye und von Wellersdorff. Sie waren tot, aber im Zweifelsfall war immer noch Ole Storm da, um Loomis an sein Versprechen zu erinnern. Denn auch er hatte es gehört, unfreiwillig zwar und nur aus der Vorpiek der Lydia heraus, aber immerhin.
Bei Tagesanbruch nach ihrer vierten Nacht auf See waren sie nur noch wenige Meilen von der schottischen Küste entfernt.
Ole hatte die Hundewache übernommen. Er stand aufrecht im Cockpit und steuerte, die Pinne zwischen den Beinen und die Hände tief in den Taschen seines neuen Lotsenölzeugs vergraben.
Auf der westlichen Kimm hatte sich vor einer Viertelstunde ein dunkler Strich aus dem
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