Die Farbe der Träume
nicht, ob es Tag oder Nacht war und wie viele Stunden vergangen waren. Sein Körper fühlte sich so unerträglich schwer an, als würde ihn der Höhlenboden in die Tiefe ziehen.
Endlich setzte er sich auf und sah, im letzten Licht des Feuers vor dem Höhleneingang, dass Harriet wach war. Sie lag neben ihm und starrte an die Decke, und sie streckte die Hand aus und berührte seine Schulter, und dann zeigte sie nach oben, und ihr langer Arm reichte fast an die Höhlendecke, und mit einer Stimme, die melancholisch und ruhig klang, sagte sie: »Da ist Gold.«
Pao Yi zitterte. Er wickelte sich in seine Decke, legte sich wieder hin und versuchte, Harriet an sich zu ziehen, damit sie ihn wärmte und für einige Momente festhielt, aber sie sagte noch einmal: »Pao Yi. Diese Höhle ist aus Gold.«
Er verstand die Worte. Er blickte hoch und sah, was sie gesehen hatte, und er ließ die Augen wandern, doch er konnte einfach nicht staunen.
In seiner eigenen Sprache sagte er, wenn der Winter vorbei und aller Schnee fort und das Wasser im Fluss gefallen und der Weg zum Meer wieder offen sei, dann sei es Zeit für eine Untersuchung, dann könne man nachsehen, ob die Höhle aus Gold sei. Aber bis dahin sollten sie sich nicht damit beschäftigen, so wie er sich auch nie mit dem Goldklumpen beschäftige, den er unter der siebzehnten Zwiebel vergraben habe.
Pao Yi bezweifelte, dass Harriet irgendetwas von dem verstehen konnte, was er sagte, aber er redete trotzdem weiter, und sie lag neben ihm und hörte zu, und er erklärte ihr, ihm sei schon eine ganze Weile ziemlich klar, dass das gelbe Licht aus seinen Opiumträumen ein goldenes Licht gewesen sei. Aber noch müsse es ein Licht und sonst gar nichts sein, denn er – der Fischer Chen Pao Yi vom Reihersee in der Provinz Guangdong in Südostchina – wisse, dass der Tag, an dem sie beschließen würden,dieses Licht zu stehlen, auch der Tag sei, an dem sie sich trennen müssten.
V
Danach kehrten sie in die Hütte zurück und richteten ihr Lager wieder nahe beim Feuer ein. Pao Yi verschloss erneut den Eingang zur Höhle. Und die Opiumpfeife legte er auf das obere Regal neben seine Ahnentafel.
Das Wetter neckte sie mit seinen wilden Kapriolen. Die Juni- und Juliwinde quetschten sich durch den provisorischen Schornstein, bliesen ihnen Rauch in die Augen und zerrten an der Sackleinwand vor der Tür. Der Schnee schmolz, und die glatten Kohlköpfe traten aus der Erde wie aufgereihte alte Männerköpfe, die, noch nicht ganz tot, geduldig unter einem Leichentuch gewartet hatten.
Hagel prasselte aufs Dach wie eine Ladung Kies. Violette und orangefarbene Regenbögen warfen ihr irreales Licht in den Raum. Der Fluss donnerte an einem Tag und schwieg fast völlig am nächsten. Regen sickerte durch das Stroh und tropfte auf den Boden. Dann hörten sie die Bäume seufzen und knacken und wussten, dass der Regen zu Eis gefroren war.
Jetzt wurde die Kälte quälend. Sie gingen nur hinaus, um sich zu erleichtern, um Gemüse aus dem Boden zu brechen oder um Feuerholz zu sammeln oder Fische aus dem Netz zu holen. Sie fragten sich, ob sie wohl hier sterben würden. Sie wussten, dass das Feuer sie am Leben hielt. Sie sehnten sich nach Pelzen oder Schaffellen, hatten aber beide nur ihre Arme, in die sie den anderen hüllen konnten.
Nach der Nacht in der Höhle beruhigte sich ihre Leidenschaft. Es war, als hätten sie die Erfahrung eines ganzen Lebens in diese eine Nacht gepackt, und jetzt begannen sie, sich in etwas einzurichten, was einer liebevollen Ehe ähnelte, einer Ehe ohnePrüderie oder Geheimnisse oder Scham. Gemeinsam kümmerten sie sich um das Feuer, kochten ihre Suppe, versuchten einander zu trösten, wenn einer Schmerzen hatte oder krank war, brachten sich Lieder bei, erzählten sich Geschichten, erlitten Langeweile, erlebten Trauer und Freude, liebten sich langsam und zärtlich und versuchten vor allem, die Kälte in Schach zu halten.
Sie begannen, auf das Geräusch des Tauens zu horchen.
Als das Tauwetter kam, wussten sie, dass der Frühling nun nicht mehr weit war.
VI
Eines Morgens lief Pao Yi zum Fluss hinunter, um zu sehen, was für Fische ihm ins Netz gegangen waren, als er im Geiste ein vertrautes Geräusch vernahm, eines, das sich lange nicht mehr gemeldet hatte; es war das Lachen von Paak Mei.
Pao Yi schob sich die Kaninchenfellmütze tiefer in die Stirn. Er lief weiter, zog die Schuhe aus und watete ins Wasser. Erst dachte er erleichtert, das Lachen sei verklungen, doch als
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