Die Farbe der Träume
er das Fischernetz anfasste, fühlte er sich durch die vertraute Berührung so lebhaft an den Reihersee versetzt, dass er sich tatsächlich dort angekommen glaubte. Und als er sich umschaute, sah er nichts als Zerstörung.
Sein Haus, einst in frischen Farben leuchtend, wirkte verwahrlost, und aus dem Schornstein stieg kein Rauch. Die Tür war geschlossen, die Angeln schienen verrostet, und die schwarzen Köpfe abgestorbener Sonnenblumen schlugen gegen den Fensterrahmen.
Pao Yis Boot lag etwas entfernt vom Kai im Wasser, und sein ehemals roter Rumpf hatte inzwischen eine stumpfe grünlich-braune Farbe. Im Boot saß eine schmale, zusammengesunkene Gestalt, die Pao Yi mit Entsetzen als seinen Sohn Paak Shui erkannte. Er versuchte, Paak Shui zu rufen, und der Junge blickte auch kurz auf, als hätte er seinen Namen gehört, doch dann sackte er wieder zusammen und verharrte regungslos in dieser Haltung.
Und jetzt begriff Pao Yi auch, dass er sich getäuscht hatte: Paak Mei lachte nicht, sie weinte. Sie weinte aus Scham darüber, dass sie verlassen worden war, aus Scham, dass ihr Reichtümer versprochen worden waren und sie stattdessen das Wenige, das sie besaß, verloren hatte, aus Scham, dass ihr Ehemann sie mit einer weißen Frau betrog.
Es war ein beinah schon warmer Morgen mit einer blassen Sonne, und das Wasser glitzerte, aber Pao Yi fror. Wenn Harriet ihn beobachtet hätte, so wie sie es manchmal tat, wenn er nach seinem Netz sah, dann hätte sie gesehen, wie er sich jetzt an dem Baum festhielt, an den das Netz gebunden war, und sich gegen den Stamm lehnte, als schwänden ihm die Sinne, und wie er regungslos dort stehen blieb.
Aber Harriet blickte ihm nicht hinterher. Sie versuchte, die Tage zu zählen, die seit der Nacht in der Höhle vergangen waren, und zu errechnen, ob sie in jener Nacht oder erst in einer der folgenden Nächte oder Morgenstunden das Baby empfangen hatte, mit dem sie, wie sie jetzt wusste, schwanger war. Sie wusste, dass das für die Schwangerschaft selbst unbedeutend war, aber sie wünschte sich, es wäre in jener Nacht gezeugt worden. Denn dann könnte sie – irgendwann in einer fernen Zukunft, wenn sie wieder allein wäre – beim Anblick des Kindes an die Wildheit jener Nacht denken und daran, wie sie in jenem herrlichen Traum ein Vogel gewesen war, ein Vogel, dessen Herz vor Verlangen fast stehen blieb. Sie würde sich erinnern, dass ihr Liebster geweint und diesen Vogel über die Dunkelheit der Kontinente hinweg angerufen hatte.
So versunken war Harriet in ihre Fantasien, dass sie erschrak, als die Tür aufging und Pao Yi mit einem Korb voller Fische zurückkehrte. Sie sah, wie er den Korb absetzte, und wollte schonaufstehen, zu ihm gehen und ihr Geheimnis verraten, das Geheimnis vom Kind, als er sich abrupt umdrehte und wieder hinausging. Und als er kurz darauf zurückkam, hielt er eine Spitzhacke in der Hand. Er ging an ihr vorbei, schaute nicht sie an, sondern nur die Wand vor der Höhle, kniete dann nieder und begann, die Steine aus dem Eingang zu brechen.
Sie sagte seinen Namen: »Pao Yi.« Sie versuchte, eine Frage zu formulieren.
Sie sah, dass er weinte. Also kniete sie sich, mit den Röcken im Staub, neben ihn auf die Erde und fragte, ob die Zeit gekommen sei, das Gold herauszunehmen, und er nickte und fuhr fort, die schweren Steine zu beseitigen, und Tränen rannen ihm über die Wangen, und sein Hemd wurde feucht am Hals.
Sie wollte, dass er mit ihr sprach, dass er ihr erklärte, was er vorhatte, doch sie merkte, dass er nichts sagen konnte. Sie hob die Hand und versuchte, ihn daran zu hindern, die Steine zu entfernen, doch er ließ sich nicht von seiner Arbeit abbringen, und da begriff Harriet.
Sie begriff, dass sie ihm jetzt helfen musste.
Schweigend arbeiteten sie Seite an Seite. Pao Yi lockerte die Steine mit der Hacke, und Harriet zog sie heraus. Zentimeter um Zentimeter legten sie die Öffnung frei, und die Höhle, ihre Opiumhöhle, wurde sichtbar, und sie spürten die Kühle und erinnerten sich an ihre Dunkelheit und ihr Geheimnis.
Sie hielten inne und machten einen Moment Pause, dann zündeten sie Kerzen an, nahmen die Kerzen mit in die Höhle, hockten sich auf den Boden und blicken hoch und sahen die goldenen Adern, die über die Höhlendecke und an den Wänden entlangliefen.
Und in jenem Augenblick, in jener kurzen Pause, bevor sie das Gold aus der Höhle zu brechen begannen, erwog Harriet, Pao Yi von dem Kind – seinem Kind – zu erzählen, damit er, wenn
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