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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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berührte und seine Wärme fühlte, irgendwo im Schnee verschwinden.
    Weil Harriets jetzige Welt so klein, so absolut schlicht war, wurde ihr jeder Gegenstand darin äußerst kostbar. Selbst das Feuer, das das unaufhörliche Verflackern der Zeit zu verkörpern schien, bekam etwas Bedeutsames, und Harriet nährte das Feuer so liebevoll, wie sie ein Kind gefüttert hätte, nur um sicher zu sein, dass es nicht starb. Neben dem Feuer aber hatte sich die Anordnung der Kochtöpfe, der Säcke und Kiepen und Gartengeräte so fest in Harriets Hirn eingebrannt, sie war derart bestimmend und präsent, dass dieses Arrangement von Dingen in ihrer Vorstellung zum einzigen wurde, das sie zum Leben zu brauchen glaubte. Mit Verwunderung dachte sie daran, welche Mengen an Möbeln und Gerätschaften sich in den Räumen angesammelt hatten, in denen sie einst lebte, und dass sie sogar im Lehmhaus Dinge für notwendig gehalten hatte, die ihr jetzt gänzlich überflüssig erschienen.
    Und sie kam zu dem Schluss, dass eine Leidenschaft wie diese die wirkliche Welt so absolut verändert, dass man mit Fug und Recht behaupten könnte, sie ähnele einer langen Halluzination oder einem Traum, aus dem die Liebenden nie zu erwachen hoffen.
IV
    Es schneite sehr lange, und dann hörte es auf.
    Harriet schaute hinaus und sah, dass die Sonne die Eiszapfen an dem einsamen Pflaumenbaum aufzutauen begann. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Tage und Nächte vergangen waren, wusste auch nicht, welcher Monat es war. Sie erinnerte sich, dass der tiefe Schnee nach Beautys Tod sehr rasch geschmolzen war.
    Und deshalb fand sie, dass Pao Yi und sie in der Hütte nicht mehr gut genug verborgen und geschützt waren, und sie ging zu ihm und sagte, sie sollten ihr Bett in die Höhle stellen.
    Pao Yi musste an seine Opiumträume denken. Er dachte an den gelblich flackernden Widerschein der Kerze an der Höhlendecke und an die Dinge, die er in den Schatten sah, und er bekam Angst. Ganz bewusst hatte er sich nie mit Harriet in die Höhle gelegt, denn er fürchtete, dort drinnen, in jenem stillen Raum, den niemand außer ihm betrat, würde die fleischliche Liebe unbeherrschbar werden, sie würde kein Ende haben und sich so lange an sich selbst berauschen, bis sie erlosch.
    Doch jetzt wollte er nur noch dorthin.
    Stein um Stein entfernte er die Wand. Er stellte eine Kerze auf einen Felsvorsprung, und gemeinsam mit Harriet zog er die dünne Matratze in den schmalen Raum, der gerade breit genug war, dass ihre beiden Körper nebeneinander liegen konnten. Es war so kalt in der Höhle, dass Harriet zögerte und fast einen Rückzieher gemacht hätte, doch dann überlegte sie, wofür es sich zu entscheiden galt – für die eisige Dunkelheit in der Höhle oder den Verlust ihres Liebsten –, und sie beruhigte sich damit, dass sie sich an die Kälte gewöhnen und dass Pao Yi und sie einander warm halten würden. Und nichts anderes zählte, nur eines, dass sie nicht entdeckt wurden.
    Pao Yi aber wusste, dass die Höhle im Winter nicht zu ertragen war, außer in Begleitung von Opium. Er zündete eine Pfeife an, und sie legten sich nieder, und die Pfeife ging vom einen zur anderen, und Harriet erlebte zum ersten Mal, wie ihr Selbst sich dehnte und streckte und in lauter außerordentlich schwerelose Fragmente zerfiel, die sich erneut zu jeder Gestalt oder Form zusammensetzen konnten, die sie nur wünschte.
    Und sie wünschte, sie wäre ein weißer Vogel mit warmen, weichen Federn und einem Herzen, das im Takt mit seinem Lied schlug, und als Vogel lag sie auf dem Körper ihres Liebsten und bedeckte ihn mit ihren Schwingen, und sie fühlte, wie er sich in ihr aufrichtete, als würde er dort wachsen, und sie sagte ihm, sie seien eins.
    Und Pao Yi, der gefürchtet hatte, sich ganz in ihr zu verlieren, der sich bis dahin nur an seinem eigenen, privaten Selbst festgehalten hatte, flehte jetzt, sie solle ihn töten, er wolle durch die Lust ins Vergessen übergehen, und sie fügte sich, und er spürte, wie ihn eine animalische Wut packte, sich unaufhörlich zu paaren, so wie die wilden Hirsche auf dem langen Berg im Frühling, und mit einem Schwall von Wörtern verfluchte er sie, sie sei ein Reptil, ein Dämon, der ihn fortgelockt habe von allem, was ihm kostbar war, und jetzt sei er verloren in ihr, verloren in der Dunkelheit, und alles, was ihm bleibe, sei der Schrecken seines eigenen Sterbens.
    Als Pao Yi erwachte, war die Kerze ausgegangen.
    Er schmeckte Blut in seinem Mund.
    Er wusste

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