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Die Farben der Wirklichkeit

Die Farben der Wirklichkeit

Titel: Die Farben der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Körner
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waren, enttäuscht umzukehren, die ersten Menschen. Nichts geheimnisvolles war an ihnen — es waren Menschen wie in ’Nim’ und ‘Gib’. Aber sie wunderten sich natürlich über den unverhofften Besuch. Zwar gab es in ’Sei“ auch Gerüchte, daß irgendwo weit draußen hinter allen Meeren noch zwei Kontinente seien, aber es glaubte niemand so recht daran. Im übrigen war es den Sehern gleichgültig. Die drei Mädchen allerdings wurden freundlich aufgenommen und eingeladen, Gäste in ’Sei“ zu sein.
    Erleichtert und glücklich über ihre Entdeckung nahmen die Mädchen diese Einladung an und verbrachten eine lange Zeit in ’Sei“. Und sie machten dort wichtige Erfahrungen, lernten Dinge, von denen sie nicht einmal geträumt hatten — und trotzdem nichts, das in irgendeiner Weise geheimnisvoll oder rätselhaft gewesen wäre. Im Gegenteil — je länger sie in ’Sei“ lebten, desto einfacher und natürlicher erschienen ihnen das Land, die Menschen und das Leben. Sie konnten schon bald nicht mehr verstehen, wie man es in ‘Nim’ oder ‘Gib’ überhaupt aushalten konnte.
    Dazu muß man wissen, wie die Menschen in Sei lebten. Und das zu erklären, ist gar nicht so einfach. Wenn ich erzähle, daß die Menschen in ’Sei“ einfach lebten, mehr nicht, dann werden das viele nicht so recht begreifen können. Denn leben, das taten ja die Menschen der beiden anderen Kontinente auch. Eva, Shulamith und Lilith spürten aber bald, daß es zwischen Leben und Leben einen großen Unterschied gab.
    In ’Nim’ lebten alle Menschen auf ein Ziel hin, das niemand anzweifelte und vielen Wohlstand brachte. Man lebte, um möglichst viel zu nehmen — alles Denken, Handeln und Leben war auf dieses Ziel ausgerichtet. Alle Menschen glaubten, sie würden dann schon richtig glücklich und zufrieden sein, wenn sie eines Tages genug genommen hätten — aber niemand hatte es bis dahin gebracht, immer schien noch irgendetwas zu fehlen.
    In ‘Gib’ war das Ziel der Menschen zwar anders, aber die Folgen waren ähnlich: Jeder lebte, um möglichst viel zu geben und sich dann gut zu fühlen. Alle glaubten, wenn sie nur genügend von sich gegeben hätten, würden sie Glück und Zufriedenheit finden, auch wenn keiner bisher so richtig glücklich geworden war.
    In ’Sei’ kümmerte sich niemand darum, ob einer etwas nahm oder gab. Die Menschen fanden das einfach gleichgültig. Wer viel nehmen wollte und glaubte, dies sei für ihn richtig, der sollte es eben so machen, wie er wollte. Was er kriegen konnte, ohne anderen zu schaden, sollte er sich ruhig nehmen. Und wer glaubte, nur durch häufiges Geben sein Leben zu verwirklichen, der sollte es ruhig versuchen. Früher oder später merkte jeder, daß dies weder ihm noch den anderen die Erfüllung brachte, die er sich zu Beginn erhofft hatte.
    Stattdessen lebten die Menschen hier. Das hört sich banal und unglaublich an — aber genau so war es. Niemand wollte hier eine Blume erforschen, indem er sie zerlegte — man betrachtete sie einfach und freute sich an ihrer Schönheit. Keiner führte mit seinen Mitmenschen stundenlange und mühevolle Diskussionen über dies oder das — mit Liebe, Rücksicht und Einfühlsamkeit fügte sich alles auch so, daß jeder zufrieden war. Die Zärtlichkeit wurde ebensowenig zerredet wie die Harmonie der Natur zerstört. Um es in einem kleinen, schlichten Satz zu sagen: Fs war das Paradies auf Erden.
    Eva, Shulamith und Lilith entdeckten staunend ein völlig neues Leben. Nicht Nehmen und Geben waren wichtig, sondern Sein und Leben. So sehr entsprach dieses Leben ihrem wahren Innersten, daß sie ihre Heimat, ja die ganze Welt vergaßen. Sie fanden Freunde, erlebten glückliche und manchmal auch traurige Stunden. Sie arbeiteten für all das, was sie für ihren Lebensunterhalt brauchten und ließen es sich ansonsten wohl ergehen. Sie liebten, lachten, verlernten Neid und Eifersucht, wußten bald nicht mehr, was Mißgunst, Haß und Unterwürfigkeit sind.
    Erst viele Jahre später erinnerten sie sich in einem langen Gespräch daran, daß es auch anderswo Menschen gab. Fin wenig Heimweh spürten sie plötzlich, wollten die anderen Kontinente und die Menschen dort einmal Wiedersehen. Und so beschlossen sie, eine Reise zu unternehmen, ’Gib* und ’Nim’ noch einmal zu besuchen und so bald wie möglich wieder nach ’Sei’ zurückzukehren.
    Als es soweit war, bemerkte Shulamith, daß sie schwanger war und blieb mit einem weinenden und einem lachenden Auge

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