Die Farben der Wirklichkeit
verunsichert, befürchteten mehr und mehr, daß in ’Nim’ langsam Zustände wie in ’Gib‘ einkehren könnten. Schon lange begnügten sie sich nicht mehr mit dem Satz: „Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh doch nach ’Gib’!“ Inzwischen befürchteten sie, daß überhaupt die Menschen aus ’Gib’ an der ganzen Misere schuld seien. Und Eva wurde als Verrückte abgetan, die möglichst von allen Menschen ferngehalten werden mußte.
So kam es dann zum ersten Krieg in der Menschheitsgeschichte. ’Nim’ zog gegen ’Gib 4 in den Krieg, um dem ganzen Dilemma ein Ende zu setzen und wieder Ordnung in die Welt zu bringen. Da in ’Gib’ ähnliche Gedanken umgegangen waren, was ’Nim’ anbelangt, waren die Menschen hier keineswegs unvorbereitet. Nach langen Wochen von Gewalt, Tod und Elend zeigte sich, daß keine Seite gewinnen konnte. Die Kriegsherren setzten sich zusammen und beratschlagten, was nun zu tun sei. Man konnte ja schließlich nicht einfach diesen heiligen Krieg beenden und so weiter machen wie vorher. Da erinnerte man sich an Eva in ’Nim’ und an Lilith in ’Gib’ und an deren seltsame Erzählungen. Schließlich entschied man, daß die Ideen dieser beiden Frauen das Chaos ausgelöst haben müssen und daß demzufolge weder ’Nir'n 1 noch ’Gib’ zu vernichten seien, sondern dieser seltsame Kontinent ’Sei’. Es wurde Friede geschlossen. Den Menschen in beiden Kontinenten wurde erzählt, daß Eva das Böse unter die Menschen gebracht habe und Lilith sowieso verrückt sein müsse. Die wahre Schuld an allem hätten diese beiden und der Kontinent ’Sei’, der unverzüglich dem Erdboden gleich gemacht werden müsse. Froh, daß dieser schlimme Krieg untereinander endlich ein Finde hatte, nahmen die Menschen beider Kontinente diese Nachricht dankbar und begierig auf. Die beiden Völker versöhnten sich. Die Menschen unterschieden im Friedenstaumel nicht mehr zwischen ’Nim’ und ’Gib’ und vermischten sich. Die Lebenshaltungen in beiden Kontinenten waren ja vorher bereits immer ähnlicher geworden. Die Verbrüderung fiel leichter als erwartet.
Die Soldaten beider Kontinente machten sich auf über das Meer, um ’Sei’ zu suchen und anzugreifen. Die Menschen dort wurden natürlich in ihrem ruhigen und harmonischen Leben von diesem unsinnigen Krieg überrascht. An so etwas hatten sie nie gedacht. Mit Liebe und ohne Gegenwehr versuchten sie, den Soldaten aus ’Nim’ und ’Gib’ zu erklären, wie sinnlos ihr Krieg sei — vergebens. Die friedlichen Menschen von ’Sei’ wurden bis auf ganz wenige Überlebende, die niemand finden konnte, getötet. Das Land wurde vollkommen verwüstet, bis nichts mehr an ’Sei’ und seine Menschen erinnerte.
Zufrieden zogen die Soldaten wieder ab. Sie waren noch nicht lange über das Meer gefahren, als hinter ihnen eine ungeheure Explosion den Kontinent ’Sei’, das Paradies auf Erden, auseinander riß. Ein riesiger Vulkan war ausgebrochen — wie zum Zeichen dafür, daß mit dem Ende seiner Menschen auch der ganze dritte Kontinent verschwinden solle. Und tatsächlich war die Explosion so ungeheuerlich, daß der ganze Continent im Meer versank. Er nahm die Überlebenden ebenso mit w 7 ie die meisten Soldaten aus ’Nim’ und ’Gib’ — und wurde seitdem nie mehr gesehen. Zwar geht heute noch die Legende um von einem sagenhaften, wundervollen Kontinent, der einst im Meer versunken war, doch hat ihn bis heute niemand gefunden.
Nur wenige Soldaten hatten den Untergang von ’Sei’ und die dadurch entstandene Flutwelle überlebt. Sie hatten Mühe, ihre jeweilige Heimat zu finden. Denn von dieser Zeit an trieben die
Kontinente ’Nim’ und ’Gib’, die durch die grobe Explosion und die nachfolgende Mut ebenfalls in viele Stücke zerbrochen worden waren, beharrlich auseinander. Aber ein paar Überlebende fanden ihre Heimat schließlich und trugen alle eine seltsame Erinnerung, ein bislang nie gekanntes Gefühl mit sich herum: Sie alle konnten niemals vergessen, mit welcher Güte und Liebe die Menschen in ’Sei’ ihnen begegnet waren, bevor sie sie brutal getötet hatten. Sie alle wurden nie in ihrem Leben das Gefühl los, daß sie weit mehr zerstört hatten als nur einen Kontinent und seine Menschen. Der Schmerz, den sie in ihren Herzen spürten, galt dieser unfaßbaren Liebe, galt dem Paradies, das sie auf ’Sei 4 gefunden, aber gleich zerstört hatten. Niemand von ihnen konnte jetzt noch begreifen, warum das alles so geschehen war.
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