Die fernen Tage der Liebe
Aprils Hausaufgaben nachsah oder ihre Abwesenheit ankündigte,
weil sie eine Hausbesichtigung hatte. Da begriff April, dass das doch nicht nur eine Taktik ihrer Mutter war. Vielleicht schwieg
sie ja deshalb, weil sie Angst hatte, dass in ihr, wenn sie Aprils Ausreißen zur Sprache brachte, diese ganzen schlimmen Gefühle
wieder hochkommen würden, die sie nie mehr erleben wollte. So ähnlich war es April auch gegangen, als sie eines Morgens –
war es in Nebraska? oder in Wyoming? – aufgewacht war und festgestellt hatte, dass ihr Großvater aufgestanden war, das Zimmer
verlassen und die Wagenschlüssel mitgenommen hatte. Er hatte schon den Motor angelassen und saß mit einer Hand auf dem Schalthebel
da, als versuche er zu überlegen, ob er etwas vergessen hatte, bevor er den Rückwärtsgang einlegte und wegfuhr. April hatte
auf ihren Großvater eingeredet und darauf gewartet, dass er sich wieder daran erinnerte, wer er war und wer sie. In den paar
entsetzlichen Sekunden, bevor sie ihn entdeckt hatte, war sie felsenfest überzeugt gewesen, dass er nie mehr wiederkommen
würde, wenn er tatsächlich abfuhr, während sie in dieser endlosen, gottverlassenen Gegend gestrandet war. Da hatte sie begriffen,
dass manchmal die größte Angst, die man haben konnte, gar nichts mit der eigenen Sicherheit zu tun haben musste.
Und als deshalb eines Abends – sechs Wochen waren seit ihrer Rückkehr nach Woodlake vergangen – Aprils Mutter sie nach einem
weiteren schweigsamen Abendessen fragte, ob sie unter Umständen Lust hätte, mit ihr ins Kino zu gehen, war April in Tränen
ausgebrochen und hatte ihre Mutter gebeten – nein, angefleht, ihr zu vergeben. Ihre Mutter war aufgestanden und hatteAprils Kopf an ihren Bauch gedrückt, bis sie sich beruhigt hatte. Sie gingen an diesem Abend nicht ins Kino. Sie saßen gemeinsam
am Tisch und sprachen darüber, was sie mit Grandpa machen sollten.
Aus diesem Grund wusste April auch, wie quälend für ihre Mutter die Suche nach einem Heimplatz für Grandpa war. Und das, obwohl
sie manchmal, insbesondere bei Telefonaten mit ihren Brüdern, wo sie über eine oder zwei Einrichtungen berichtete, die sie
und April sich an diesem Tag angeschaut hatten, so tat, als sei diese ganze Situation mal wieder ein typisches Ärgernis, typisch
Bill Warrington,
nur
um allen anderen das Leben schwerzumachen.
April fand, dass Clifton House ein perfekter, schlichter Name war. Und der Gemeinschaftsraum war auch tatsächlich ein Gemeinschaftsraum,
der Speiseraum tatsächlich ein Ort, an dem ein Mensch essen konnte, ohne sich eine irgendeine Krankheit einzufangen, die eigentlich
schon seit Jahrhunderten als ausgemerzt galt. Außerdem lag es so nahe, dass April mit dem Fahrrad hinfahren konnte.
Sie hatte darauf bestanden, bei dem Telefonat dabei zu sein, in dem sie ihre Onkel informiert hatten, nachdem sie beide sich
für diese Einrichtung entschieden hatten. Ihre Mutter hatte sich ein neues »Home Office«-Telefon zugelegt und mit Hanks Hilfe
installiert, mit dem man auch Konferenzgespräche mit bis zu drei Teilnehmern führen konnte. Und so saßen April und ihre Mutter
also nebeneinander an dem improvisierten Schreibtisch im ehemaligen Nähzimmer und sprachen über die Freisprechanlage.
»Hört sich teuer an«, bemerkte Nick, nachdem Marcy mit ihrer Beschreibung von Clifton House fertig war. Marcy nickte. Keiner
reagierte.
»Dein Nicken können sie nicht hören«, erklärte April endlich und sagte dann ins Freisprechmikrofon: »Meine Mom nickt, was
soviel bedeuten soll wie, dass sie dir recht gibt, aber gleichzeitig findet sie, dass es jeden Penny wert ist, besonders im
Vergleich mit den anderen Bruchbuden, die wir uns angesehen haben. Da wird sie eben noch ein, zwei Häuser mehr verkaufen müssen.
Onkel Nick, du musst mehr Artikel schreiben und du, Onkel Mike … na ja, du musst dir einfach einen Job suchen.«
Einen Moment lang hörte man nur das Summen der Leitung durch die Freisprechanlage.
»Und zwar schnell«, fügte April hinzu.
Aus dem Lautsprecher kam ein Lachen.
»Genau wie deine Mutter«, sagte eine Stimme. April wusste, dass das Onkel Mike war, trotzdem glaubte sie im ersten Moment,
noch jemand habe sich in das Gespräch eingeschaltet. Und dann fiel ihr wieder ein, wo sie genau diese Worte schon einmal gehört
hatte: als sie nämlich zum ersten Mal ihren Großvater besucht und der an der Haustür gestanden und sie ihnen aufgehalten
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